Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht. Nadine Erdmann
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Es wurde Zeit, einen sicheren Ort aufzusuchen.
Cam hatte zwar keine Angst vor Geistern, aber den nötigen Respekt. Besonders, wenn eine Unheilige Nacht anstand.
Außerdem war es hier draußen echt ungemütlich und er sehnte sich nach seinem warmen Zuhause. Es würde etwas Leckeres zum Abendessen geben und danach würden sie wie in allen Unheiligen Nächten Bannkräuter im Kamin verbrennen, um das Haus zu schützen. Cam bezweifelte zwar, dass das wirklich nötig war, denn wie in allen Häusern, war ihr Kamin mit einem Geflecht aus verschiedenen Eisengitter geschützt, sodass eigentlich keine Geister durch den Schornstein eindringen konnten. Aber es war ein Familienritual. Sie kamen im Wohnzimmer zusammen, jeder warf ein Kräuterbündel ins Feuer und sie verbrachten den Abend gemeinsam vor dem Kamin. Cam schätzte, dass Sue, Phil und Granny irgendwann mit dieser Tradition angefangen hatten, um ihren Kindern die Angst vor den Unheiligen Nächten zu nehmen und ihnen zu vermitteln, dass man alles durchstehen konnte, wenn man zusammenhielt und wusste, wie man sich schützen konnte. Das war vermutlich auch der Grund, warum Thad die Unheiligen Nächte immer bei ihnen verbrachte. Er hatte keine eigene Familie, doch Phil war seit ihrer gemeinsamen Schulzeit sein bester Freund, und auch wenn Thad eher ein Einzelgänger war, gehörte er zu ihrer Familie dazu und verbrachte die gefährlichsten Nächte des Jahres bei ihnen.
Allerdings nur, wenn er, Gabriel, Sky und Connor nicht zum Dienst gerufen wurden. Im Voraus geplante Einsätze mutete man Spuk Squads in Unheiligen Nächten nicht zu, aber alle Einheiten hatten sich in Bereitschaft zu halten, sollten sie für Notfälle gebraucht werden. Bisher war dies zum Glück nicht oft der Fall gewesen, weil die meisten Menschen so vernünftig waren, in ihren Häusern zu bleiben. Die, die dies nicht taten, bezahlten das zumeist mit ihrem Leben. Die Unheiligen Nächte gehörten den Geistern. Das wussten bereits die kleinen Kinder.
Bis zum letzten Jahr war auch Mrs Hall in den Unheiligen Nächten immer bei ihnen gewesen. Sie war eine nette Frau Ende achtzig, die ganz allein in der alten Villa gegenüber gewohnt hatte, bis sie im letzten Jahr unglücklich die Treppe hinuntergestürzt war. Von den Folgen des Sturzes hatte sie sich nicht wieder erholt, sodass sie jetzt in einem Pflegeheim lebte und ihr Haus leer stand. Da ihr Mann schon früh gestorben war und ihre einzige Tochter in Australien lebte, hatten Granny, Sue und Phil sich viel um sie gekümmert, besonders zu den Unheiligen Nächten. Darauf kam es schließlich an. Niemand sollte die gefährlichsten Zeiten des Jahres alleine durchstehen müssen.
Cam checkte die Uhrzeit auf seinem Handy.
17:03 Uhr.
Laut Fahrplan sollte der Bus um sieben Minuten nach fünf kommen und ihn nach Camden bringen. Den Anschluss zum Hampstead Heath würde er nicht mehr schaffen. Die öffentlichen Verkehrsmittel stellten heute schon um halb sechs ihren Dienst ein. Den Rest des Wegs musste er also laufen, was aber nicht dramatisch war. Wenn er sich beeilte, schaffte er es pünktlich zur Ausgangssperre nach Hause.
Cam schaute die Straße hinunter. Vom Bus war noch nichts zu sehen und auch sonst war weit und breit keine Menschenseele. Die meisten Leute verschanzten sich bereits in ihren Häusern. Bisher waren nur zwei Autos an ihm vorbeigekommen.
Fröstelnd zog er die Schultern hoch und scrollte durch die Spiele auf seinem Handy, um irgendwas Kurzweiliges zu finden, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass ein Wagen aus der Seitenstraße, die zu Evans Siedlung führte, auf die Hauptstraße bog. Eigentlich hätte er dem nicht weiter Beachtung geschenkt, doch der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich genau vor ihm an der Haltestelle. Misstrauisch zog Cam seine Kopfhörer aus den Ohren.
Das Fenster an der Beifahrerseite wurde heruntergefahren und Topher grinste ihm entgegen. Cams Magen zog sich zusammen und er wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Hey Freak.«
Gehässiges Gelächter drang aus dem Wagen und Cam erkannte, dass Emmett auf dem Fahrersitz saß.
»Was denn?«, spottete Topher. »Hat die kleine Petze etwa Angst vor uns?« Seine Stimme klang, als würde er mit einem Dreijährigen sprechen. »Armes kleines Muttersöhnchen. Dabei wollen wir doch nur nett sein. Ist heute ja schließlich sehr gefährlich hier draußen. Da sollten arme kleine Weicheier doch nicht mit dem Bus fahren müssen.« Er stieg aus dem Wagen.
»Danke, ich komme klar«, erwiderte Cam knapp und wich einen weiteren Schritt zurück. Er wollte zwar nicht den Anschein erwecken, er würde sich vor ihnen fürchten, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.
Topher öffnete die Tür zur Rückbank. »Glaubst du allen Ernstes, wir lassen dir eine Wahl?« Jetzt klang seine Stimme nicht mehr nach gehässigem Baby-Talk, sondern eiskalt. »Steig ein.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Nervös warf Cam einen Blick die Straße hinunter.
Wann kam denn endlich der verdammte Bus?
»Das war keine Bitte!«
»Das ist mir scheißegal. Ich steig nicht zu euch in den Wagen! Ich bin doch nicht bescheuert!«
Ein niederträchtiges Lächeln umspielte Tophers Lippen und ein triumphierendes Funkeln trat in seine Augen. »Ich hatte so gehofft, dass du das sagen wirst.«
Es ging zu schnell, als dass Cam irgendetwas dagegen hätte tun können. Jemand sprang von hinten wie aus dem Nichts an ihn heran. Ein starker Arm schlang sich um seine Brust und hielt ihn gepackt, während eine Hand ihm ein übel riechendes Tuch über Mund und Nase drückte. Voller Panik versuchte er die Arme hochzureißen und sich dagegen zu wehren, doch sein Angreifer war größer und stärker und der widerlich chemische Gestank aus dem Tuch ließ Cams Augen tränen. Er sah alles nur noch verschwommen und kämpfte gegen Übelkeit und Schwindel, die ihn zu übermannen drohten.
Blut rauschte in seinen Ohren.
Sein Herz hämmerte wild gegen seine Rippen.
Panisch krallte er seine Finger in die Hand, die ihm das Tuch aufs Gesicht drückte.
Er wollte nicht atmen.
Er durfte nicht atmen!
Er hielt die Luft an und presste seine Lippen so fest zusammen, wie er konnte, merkte aber, dass er keine Chance hatte. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Seine Finger wurden zu schwach, um sich gegen die Hand seines Angreifers zu wehren, und seine Beine schienen ihn plötzlich nicht mehr tragen zu können. Er wollte nicht atmen, doch seine Sinne schwanden mehr und mehr und er schaffte es nicht länger, seine Lippen zusammenzupressen.
Höhnisches Lachen war das Letzte, was durch seine Benommenheit zu ihm drang, bevor ihm endgültig schwarz vor Augen wurde.
Kapitel 2
Jemand zerrte ihn mit sich. Seine Füße schleiften über unebenen Boden, schienen aber irgendwie nicht so recht zu ihm zu gehören. Das Tuch mit dem widerlichen Geruch war verschwunden, doch das Zeug, mit dem man ihn ausgeknockt hatte, wirkte noch nach.
Er driftete zwischen Bewusstlosigkeit und Benommenheit hin und her, schaffte es aber nicht, wirklich zu sich zu kommen. Seine Augenlider waren zu schwer, sein Gehirn zu träge. Nur wirre Empfindungen drangen zu ihm durch.
Feuchte Kälte.
Ein