Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo
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Читать онлайн книгу Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo страница 24
Der schwankende und dürftige Schimmer der Feuer gestattete Gringoire, trotz seiner Aufregung, rings um den ungeheuern Platz einen häßlichen Kranz alter Häuser zu erkennen, deren zerfressene, zusammengesunkene, niedrige Vorderseiten jede von ein oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen waren, und die ihm im Schatten der Nacht wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, welche, im Kreise herumstehend, fürchterlich und griesgrämisch und mit blinzelnden Augen auf den Hexensabbath herabsehen.
Es war gleichsam eine neue, unbekannte, unerhörte, mißgestaltete, kriechende, wimmelnde und phantastische Welt.
Gringoire, in steigender Bestürzung, von den drei Bettlern wie von drei Zangen festgehalten, betäubt von einer Menge anderer Gesichter, welche rings um ihn schäumten und schrien, – der unglückliche Gringoire versuchte seine Geistesgegenwart zu sammeln, um sich zu erinnern, ob man einen Sonnabend hätte. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich; sein Gedächtnisfaden und sein Gedankengang waren unterbrochen; und zweifelnd an allem, ungewiß in dem, was er sah und hörte, legte er sich die unlösliche Frage vor: »Wenn ich bin, existirt auch das da? Wenn das wirklich ist, bin ich es auch?«
In diesem Augenblicke erscholl in dem tosenden Haufen, welcher ihn umgab, ein deutlicher Ruf: »Laßt uns ihn zum Könige bringen! zum Könige mit ihm!«
»Heilige Jungfrau!« murmelte Gringoire, »der hiesige König, das muß ein Bock sein!«
»Zum Könige! zum Könige!« wiederholten alle Stimmen.
Man zog ihn fort. Jeder wollte die Kralle an ihn legen. Aber die drei Bettler ließen ihn nicht los und entrissen ihn den andern mit dem Geschrei: »Er gehört uns!«
Das schon schlechte Wamms des Dichters ging bei dieser Rauferei gänzlich in Stücke.
Als er über den fürchterlichen Platz schritt, schwand sein Taumel. Nach einigen Schritten war ihm das Gefühl der Wirklichkeit wiedergekommen. Die Atmosphäre des Ortes begann es ihm wiederzugeben. Anfangs war aus seinem Dichterkopfe, oder vielleicht und um es geradeheraus ganz prosaisch zu sagen, aus seinem leeren Magen ein Dunst, eine Benebelung so zu sagen, emporgestiegen, welche sich zwischen ihn und die Dinge rings herum verbreitete, und ihm diese nur im unzusammenhängenden Traumbilde, in jener flüchtigen Unbestimmtheit hatte erkennen lassen, welche alle Umrisse schwanken macht, alle Gestalten verzerrt, die Gegenstände sich in ungeheuern Gruppen zusammenballen läßt, die Wirklichkeit in Traumbilder verwandelt, aus Menschen Gespenster macht. Allmählich wich diese Sinnestäuschung einer bestimmten und nüchternen Erkenntnis. Die Wirklichkeit erschien um ihn her, stach ihm in die Augen, stieß an seine Füße und vernichtete nach und nach alle die fürchterlichen Phantasiegebilde, von denen er sich umringt geglaubt hatte. Er mußte schließlich merken, daß er nicht im Styx, wohl aber im Kothe wadete; daß er nicht von bösen Geistern, sondern von Dieben vorwärtsgestoßen wurde; daß es sich hier nicht um seine Seele, sondern ganz einfach um sein Leben handeln würde, (weil es ihm an jenem kostbaren Vermittler fehlte, der sich so wirksam zwischen den Banditen und den ehrlichen Menschen stellt: der Börse). Kurzum, als er sich die Orgie etwas näher und mit mehr Kaltblütigkeit ansah, entpuppte sich der Hexensabbath als eine gewöhnliche Spelunke.
Das Wunderschloß war in der That nichts anderes, als eine Spelunke, aber eine Diebesschenke, die ebenso vom Blute, wie vom Weine geröthet war.
Das Schauspiel, welches sich Gringoire's Augen darbot, als ihn seine zerlumpte Bedeckung schließlich am Ziele seines Marsches ablieferte, war nicht geeignet, ihn wieder an Dichtung denken zu lassen, nicht einmal an die der Hölle. Es war mehr denn je die prosaische, gemeine Wirklichkeit einer Schenke. Wenn wir uns nicht im fünfzehnten Jahrhunderte befänden, möchte man behaupten, Gringoire wäre aus demjenigen Michel Angelo's in dasjenige Callots gerathen.
Um ein großes Feuer, das auf einer mächtigen, runden Steinplatte brannte, und dessen Flammen durch die erglühten Stäbe eines augenblicklich leeren Dreifußes schlugen, waren einige wurmstichige Tische hier und da, aufs Gerathewohl aufgestellt, ohne daß der geringste Feldmessergehilfe es für nöthig gehalten hätte, ihre gleichen Seiten zusammenzupassen, oder dafür Sorge zu tragen, daß sie wenigstens nicht an zu ungleichen Ecken aneinander stießen. Auf diesen Tischen blinkten mehrere von Wein und Bier triefende Krüge, und um diese herum saßen viele bacchantische Gesichter, die vom Wein und Feuer geröthet waren. Hier saß ein dickbauchiger Kerl mit jovialem Gesichte, der ein stattliches volles Freudenmädchen stürmisch umarmte; dort wickelte eine Art falscher Soldat – ein Schlaumeier, wie man es in der Gaunersprache nannte – pfeifend die Binden von seiner falschen Wunde und machte sein gesundes und starkes Knie, welches seit dem Morgen in zahllose Verbände eingeschnürt war, wieder gelenke. Als Gegenstück machte ein Siecher mit Schöllkraut und Ochsenblut sein »Gottesbein« für den nächsten Tag fertig. Zwei Tische weiter buchstabirte ein Pilger in vollständigem Pilgerkleide das Klagelied auf die Himmelskönigin, ohne die Eintönigkeit und das Näseln dabei zu vergessen. An einem andern Platze nahm ein junger Strauchdieb Unterricht in der Epilepsie bei einem alten Bettler, der Krämpfe zu heucheln verstand, und der ihn in der Kunst unterwies, mit einem zerkauten Stück Seife Schaum am Munde hervorzubringen. Daneben machte sich ein Wassersüchtiger von seiner Geschwulst frei, und veranlaßte vier oder fünf Diebesweiber, die sich an demselben Tische um ein am Abende gestohlenes Kind zankten, sich die Nase zuzuhalten. Alles das waren Umstände, die zweihundert Jahre später, wie Sauvel sagt, »dem Hofe so spaßhaft erschienen, daß sie dem Könige zum Zeitvertreibe und als Scene im königlichen Ballet ›Die Nacht‹ dienten, das in vier Abtheilungen auf dem Theater Petit-Bourbon getanzt wurde«. »Niemals,« fügt ein Augenzeuge von 1653 hinzu, »sind die plötzlichen Verwandlungen des Wunderhofes mit mehr Glück dargestellt worden. Benserade bereitete uns in recht niedlichen Versen darauf vor.«
Lautes Lachen und unzüchtige Lieder erschollen von allen Seiten. Jeder wurde anmaßend, machte boshafte Bemerkungen und fluchte, ohne auf seinen Nachbar zu hören. Die Krüge erklangen, Streit erhob sich beim Anstoßen mit denselben, und die schartigen Humpen zerrissen die Lumpen der Zänker.
Ein großer Hund, der auf seinem Hintertheil saß, stierte ins Feuer. Kinder fehlten gleichfalls nicht bei dieser Orgie. Der gestohlene Knabe weinte und schrie. Ein anderer dicker Bursche von vier Jahren saß mit herabhängenden Beinen auf einer zu hohen Bank hinter einem Tische, der ihm bis ans Kinn reichte, und sprach kein Wort. Ein dritter knetete emsig mit dem Finger den schmelzenden Talg, welcher von einem Lichte auf den Tisch herabtropfte. Ein Kleiner schließlich kauerte im Schmutz, fast ganz von einem Kessel verdeckt, an dem er mit einem Steine schabte und einen Ton hervorbrachte, um einen Stradivarius in Ohnmacht fallen zu lassen.
Ein Faß stand neben dem Feuer, und ein Bettler saß auf demselben. Es war der König auf seinem Throne.
Die drei, welche Gringoire festhielten, führten ihn vor dieses Faß, und augenblickliche Stille trat in der wüsten Versammlung ein; nur das Kind am Kessel spielte weiter.
Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen aufzuschlagen.
»Hombre, quita tu sombrero!« sagte einer der drei Strolche, welche ihn hielten; und bevor er verstanden hatte, was er sagen wollte, hatte ihm