Reisen nach Ophir. Rolf Neuhaus

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Reisen nach Ophir - Rolf Neuhaus marix Sachbuch

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gutmütig wie gescheit war, versicherte, dass seine Stammesbrüder besonders die Handballen als Leckerbissen schätzten. Selbstverständlich fand Humanist Humboldt Kannibalismus abscheulich, aber er sah auch ein, dass es rein gar nichts half, den Eingeborenen deswegen Vorwürfe zu machen. Wir Europäer würden uns auch nicht von einem Brahmanen, der Europa besuchte, davon abhalten lassen, Tierfleisch zu essen. Und wie viel Grässliches war nicht schon bei zivilisierten Völkern vorgekommen, wenn sie Hunger schoben wie die Wilden?

      Vom Casiquiare fuhren Humboldt und Bonpland den Orinoko hinauf, um der Lösung des zweiten geografischen Orinoko-Problems, der Lagebestimmung seiner Quellen, näherzukommen. Doch vor jenem strategischen Punkt, an dem selbst militärische Expeditionen schon gescheitert waren, weil die hungrigen Indios mit ihren Giftpfeilen alle Eindringlinge zu erlegen pflegten, machten sie kehrt, fuhren den Orinoko hinunter und kamen von den Menschen- zu den Erdefressern. Sie machten Station in einem kleinen Dorf, in dem Indios vom Stamm der Otomaken lebten. Diese ernährten sich während des gröβten Teils des Jahres hauptsächlich von Fischen und Schildkröten, aber in der Regenzeit, wenn der Orinoko auf eine Breite von fünf Kilometern anschwoll und das Land zwei, drei Monate lang überschwemmte, war es mit dem Fischfang vorbei, und die Indios bekamen nur selten einmal eine Farnwurzel, eine Eidechse oder einen toten, auf dem Wasser schwimmenden Fisch zu fassen. Dann aβen sie nicht nur gelegentlich Erde, um den Hunger zu beschwichtigen, vielmehr ernährten sie sich geradezu von Lehm, einer fetten Tonerde, die sie zu kleinen Kugeln formten und zu Pyramiden stapelten. Mit einer Tagesration von etwa einem halben Kilo kamen sie in Zeiten der Not über die Runden, aber auch den Rest des Jahres naschten sie gerne Erdkugeln. Das Erstaunlichste war, dass sie nicht vom Fleische fielen und keinen aufgedunsenen Bauch bekamen, sondern im Gegenteil sehr kräftig und gesund aussahen. Die Otomaken waren keineswegs die einzigen Indios am Orinoko und seinen Zuflüssen, die der Geophagie zusprachen, wie auch die Anthropophagie im Orinoko-Becken kein singuläres Phänomen darstellte. Vielleicht hatte Kolumbus ja doch Recht gehabt, als er auf seiner dritten Westindienfahrt im Jahr 1498 zum ersten Mal amerikanisches Festland erreichte und angesichts des Orinoko-Deltas nicht nur vermutete, sondern geradezu felsenfest überzeugt davon war, dass hinter der Orinoko-Mündung der Garten Eden, das irdische Paradies liegen müsse; das erste Land im Westen war für Kolumbus das östlichste Asiens, wo die Sonne aufging, von wo im Augenblick der Schöpfung der erste Lichtstrahl ausgegangen war, dort lag das Paradies, in dem Wasser und fetter Fango flossen. Und vielleicht lag Sir Walter Raleigh gar nicht so falsch, als er 1595 auf der Suche nach Eldorado den Orinoko hinauffuhr, aber nicht weit kam, und 1617 noch einmal nach Guayana segelte, um zwischen dem Quellgebiet des Orinokos und dem Amazonas die groβe Stadt Manoa und ihre mit massiven Goldplatten bedeckten Paläste zu entdecken, was ihm nicht gelang. Womöglich konnte man sich auch von Gold ernähren und gesund und kräftig bleiben. Humboldt jedenfalls wurde dort »vom Regen, fürchterlichen Mosquiten und Ameisen und vorzüglich vom Hunger grausam geplagt«, wie er seinem Bruder schrieb, nicht gerade vom Hunger nach Gold und Glückseligkeit wie Kolumbus und Raleigh, auch nicht vom Hunger nach Erkenntnis, denn den konnte er reichlich stillen. Als er nach zweieinhalb Monaten und 2250 Flusskilometern in die Zivilisation des Provinzstädtchens Angostura (Ciudad Bolívar) zurückkehrte, wo einfache Wohnräume ihm prachtvoll erschienen und jeder, der ihn anredete, beinahe geistreich war, verschlang er »mit unbeschreiblicher Freude« zum ersten Mal wieder Weizenbrot, zunächst mit den Augen. In den Schoβ der Kultur zurückzukehren war ein Hochgenuss, doch er hielt nicht lange vor, die Natur rief erneut. Vorerst aber forderte der Urwald Tribut: Bonpland und Humboldt befiel ein Fieber, der Diener, der sie seit Cumaná begleitet hatte, starb nach wenigen Tagen, man war davon überzeugt, dass sie den Keim des Typhus aus den Regenwäldern am Casiquiare mitgebracht hatten, man gab Humboldt ein Gemisch aus Honig und dem Extrakt der Chinarinde, daraufhin verstärkte sich das Fieber, hörte am nächsten Tag jedoch auf, Bonplands Zustand hingegen verschlimmerte sich durch Beimischung von Ruhr, beinahe wäre er dem Fieber erlegen, sehr langsam genas er wieder.

      Mit den gesammelten Pflanzen, Gesteinsproben, lebenden Tieren und menschlichen Skeletten zogen Humboldt und Bonpland auf Maultieren durch die venezolanischen Ebenen nach Neu-Barcelona. In einem kleinen offenen Schmugglerboot, das Kakao zur Insel Trinidad brachte, fuhren sie weiter nach Cumaná, um sich dort nach Kuba einzuschiffen, wurden aber auf der kurzen Küstenfahrt von einem Kaperschiff aus Halifax (Kanada) gestellt. Während Humboldt mit dem Kapitän verhandelte, weil er keine Lust hatte, nach Neuschottland verschleppt zu werden, schickte die Vorsehung eine englische Korvette vorbei, deren Kapitän mit George Vancouver die amerikanische Westküste zwischen San Francisco und Alaska erforscht und kartiert hatte und aus englischen Zeitungen über die Reise des Kollegen Humboldt informiert war. Die Korvette lieβ das Kakaoboot laufen, aber von Cumaná ging es erst einmal nicht weiter. Die regulären Paketboote von La Coruña nach Mexiko und Kuba waren seit Monaten ausgeblieben, wahrscheinlich von britischen Kreuzern aufgebracht worden. Nur Humboldts Affen, die er der Menagerie im Pariser Botanischen Garten vermachen wollte, kamen von Cumaná weg, mit einem ganzen Geschwader französischer Schiffe, die nach Guadeloupe gingen. Humboldt und Bonpland entschlossen sich, wieder nach Neu-Barcelona zurückzufahren, denn von dort sollte ein kleines nordamerikanisches Schiff, das Pökelfleisch lud, nach Kuba abgehen. Nach 16 Monaten in Venezuela und 25-tägiger Überfahrt, bei der sie vor der Südküste Jamaikas beinahe an den Klippen zerschellt wären, kamen sie kurz vor Weihnachten 1800 in La Habana an.

      Auf Kuba entschloss sich Humboldt, nach Nordamerika überzusetzen, bis zu den Groβen Seen hinaufzugehen, auf dem Ohio und dem Mississippi nach Louisiana hinunterzufahren und dort den wenig bekannten Landweg nach Mexiko einzuschlagen. Kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, da brachten amerikanische Zeitungen die Meldung, dass die seit Langem geplante französische Expedition unter Kapitän Baudin nun endlich von Le Havre abgegangen sei und in einem Jahr in Lima erwartet werde. Humboldt hatte mit Baudin in Paris abgesprochen, von Algier oder Tunis aus zur Expedition zu stoβen, sobald die Fahrt losginge. Aus La Coruña hatte er Baudin mitgeteilt, dass er statt nach Nordafrika nach Spanien gegangen sei, im Begriff stehe, nach Amerika zu fahren, und sich Baudin anschlieβen wolle, wo immer in den spanischen Überseebesitzungen der Kapitän anlegen möge, ob in Montevideo, Chile oder Lima. Nun ließ Humboldt seinen Nordamerika-Plan fallen, um nach Lima zu gehen, und fragte Baudin brieflich, ob er dort an Bord gehen dürfe. Falls nicht, werde er seine Reise einfach nach Acapulco (Mexiko) und dann über die Philippinen und Persien bis Marseille fortsetzen. Eine Antwort konnte er nicht abwarten, zumal es fraglich war, ob Briefe, die zusammen mit anderen Dokumenten bei unangenehmen Begegnungen mit Schiffen verfeindeter Länder zuerst über Bord geschmissen wurden, überhaupt ankamen. Humboldt und Bonpland beeilten sich, wieder nach Südamerika zu kommen, sie entschieden sich für den Landweg über Bogotá und Quito anstelle des langwierigen und langweiligen Seewegs von Acapulco oder Panama über Guayaquil (Ecuador), auf dem sie gegen den später so genannten Humboldt-Strom hätten anschwimmen müssen. Auf dem Landweg mussten sie bloβ über »die ungeheure Cordillere der Anden« steigen, aber das hatte unter anderem den Vorteil, dass Humboldt dann eine allein auf eigenen Beobachtungen beruhende Karte ganz Südamerikas nördlich des Amazonas erstellen konnte. Sie machten – groβenteils zu Fuβ – 3600 Kilometer über Land, das sie gar nicht hatten betreten wollen, doch Baudin trafen sie nicht, und die Südsee befuhren sie auch nicht. Ihre gesamte Amerikareise mutet erratisch an, erratisch wie das Leben selbst, aber darin besteht wohl auch ein Reiz, es wäre weniger lebhaft, verliefe es nach Plan.

      In Batabanó an der Südküste Kubas nehmen Humboldt und Bonpland ein kleines Schiff, bei äuβerst schwachen Winden brauchen sie fast einen Monat für die Überfahrt, kurz vor Cartagena de Indias (Kolumbien) geraten sie in einen Sturm und kentern fast, ganz wie auf dem Orinoko, das Schiff legt sich auf die Seite, das Steuer gehorcht nicht mehr, nur durch beherztes Kappen der Taue richtet das Boot sich wieder auf. In einer Piroge mit indianischer Rudermannschaft fahren sie den angeschwollenen, mächtig strömenden Río Magdalena wochenlang stromaufwärts, bis Honda, dort steigen sie mit schwer bepackten Maultieren einen schmalen Pfad nach Bogotá hinauf, wo sie zwei Monate bleiben, Bonpland hat wieder Fieber. Humboldts Gesundheit dagegen »ist so gut als sie vorher nie war«, und er ist »äuβerst glücklich«, wie er seinem Bruder schreibt. Über Cartago, Popayán und Pasto gehen sie nach Quito, sie stapfen durch Sümpfe und reiβen sich an den Stacheln des Bambusschilfs Schuhe und Füβe auf, zwei Monate lang werden sie bei Tag

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