In dunklen Gegenden. Thomas Ballhausen
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Die mechanische Bombe schlug in einer Nacht ein, die wir, ich kann nicht mehr sagen warum, nicht im Anwesen verbracht hatten. Der Einschlag war für die Allgemeinheit ein zu unbedeutendes Ereignis gewesen, als dass es sich in den historischen Zeitungsbeständen heute finden lassen würde, doch für uns änderte sich damals schlagartig alles. Die abgeschossene Maschine, ein Blindgänger, dessen Zweck auf den ersten Blick nicht zu erkennen war, erwartete uns bei der Rückkehr in unser abgestecktes Reich. Sie hatte das Dach und die Decke zwischen Dachgeschoss und dem darunterliegenden Stockwerk durchschlagen und war im Fußboden einer der großen Wohnräume im ersten Stock stecken geblieben. Wir besahen sie neugierig von allen Seiten, auch vom Erdgeschoss aus, vorsichtig nach oben blickend und das matte Grau der stählernen Konstruktion bestaunend. Wir hatten Maschinen wie diese bislang nur in den Nachrichten gesehen. Risse durchzogen die Decke um sie herum, doch offensichtlich bestand keine Gefahr, dass die Maschine der Eisenmänner, denn nichts anderes war sie, weiter nach unten fallen würde. Die Versuche, diesen stummen Gast in unsere bestehenden Spiele und Rituale zu integrieren, schlugen fehl. Nach nur wenigen unbefriedigenden Tagen der Ungeduld begannen wir neue Formen zu entwickeln und uns im Verlauf der Bewegungen im Haus immer weiter an die Maschine heranzuwagen. Es wurde zu einer unvermeidlichen Mutprobe, sie schließlich zu berühren, ihre Aktivierung zu riskieren. Wir wollten wissen, wie die Gefahr oder das, was wir dafür hielten, schmeckte. Wir wollten die Tauschgeschäfte der Jugend auskosten, den Einsatz höhertreiben. Im Kreis um die Maschine stehend reizten wir uns mit Worten, schubsten uns. Beleidigungen folgten, und eines der Mädchen in unserer Gruppe bot mir, kaum dass sie mich einen Feigling genannt hatte, großspurig einen Kuss an, wenn ich die metallene Oberfläche als erster berühren wollte. Schwerwiegende Entscheidungen fielen mir niemals wieder so leicht wie damals. Ich trug, als wir da standen, eine schwarze Maske und trotz der Temperaturen eine viel zu große Lederjacke über meiner verwaschenen Kleidung. Ich berührte die Maschine, nahm die Hand aber nicht gleich wieder weg, wie es sich vielleicht empfohlen hätte. Ich wartete zu, wunderte mich, was da unverständlicherweise in meinem Brustkorb pumpte und scheuerte. Die schlafende Drohne, dieses stählerne Insekt, entfaltete sich nicht unter meiner Berührung, kein Zauber stellte sich ein. Ich wartete. Dann zog ich die Hand zurück und verließ wortlos das Haus, in das ich nie mehr zurückkehrte. Doch der Bauschutt dieser Welt hat mich nie verlassen, in meiner Empfindung ist dieser Sommer, mit all seinen großen Fragen, nie zu Ende gegangen. Das Mädchen hat mich nie geküsst.
II. Fabelhafte Verhältnisse
»Aber eine Armee von Gespenstern beansprucht seine Schuhe.«
Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei
Die eigentlich lähmende Ruhe eines Feiertags und eine auf einem grellbunten Plakat beworbene Attraktion treibt Dich aus Deinem gemütlichen Zimmer, es zieht Dich förmlich auf die Straße, weg von Deiner verlotterten Polizeistation, die Du vor weniger als einem Monat in desolatem Zustand vorgefunden und nach Durchführung der notwendigsten Reparaturen übernommen hast. Du machst einen kurzen Halt beim städtischen Postamt und gibst eine der gefälschten Ansichtskarten auf, die eigentlich eine chiffrierte Nachricht an Deine Dir übergeordnete Dienststelle ist. Adressiert ist das kleine, nachlässig bedruckte Kartonrechteck an Leute, die Du kaum kennst, wie könnte es auch anders sein. In einer Ecke des Amts, unweit des Schalters, lungern ein paar Einheimische, die sich wohl schon vor ihrem Besuch des sich angekündigten Jahrmarkts, ein selten zu sehendes Spektakel in dieser Gegend, das, neben anderen Dingen, eben auch Deine Hoffnung auf billige Ablenkung in diesen tristen Tagen unerfreulicher Ermittlungen geweckt hat, ein wenig mit Fusel betrinken wollen, wohl auch, um Zeit und Geld bei den später erhofften Vergnügungen einzusparen. Einer von ihnen stößt eine Flasche um, und Du musst, ganz gegen Deinen eigentlich vorhandenen Vorsatz, Dich bei solchen Geräuschen nicht mehr ruckartig nach deren Quelle umzudrehen, aufschauen, Dir ein Bild machen, wie immer, wenn ein Glas, ein Teller zu Boden fällt oder ein morsch gewordener Stuhl unter dem Gewicht eines Gastes zu Bruch geht. Du betrachtest die sorglosen Gäste, ihre geröteten Nasen und suchst unter ihnen nach Gesichtern, die Dir zumindest entfernt vertraut erscheinen, horchst möglichst genau auf das Geraune ihrer leisen Stimmen. Du musst Dich sehr konzentrieren, um weder aufzufallen noch enttarnt zu werden. Auch das könntest Du alles verlernen, alles kann wieder verlernt werden. Die einzige natürliche Fertigkeit, die man für Deine eigentliche, vor allen verheimlichte Arbeit je mitbringen musste, war und ist das Lügen. Zivilisatorische Normen kann man ablegen, Regel für Regel, der eigentliche Akt des Tötens geht schneller als erwartet und wie von selbst von der sprichwörtlichen Hand. Du hast diese Gabe in Dir entdeckt, auch wenn Du es Dir vorerst kaum zugetraut hattest. Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran, bis besagte Fähigkeit zum wesentlichsten Teil der eigenen Person geworden ist. Du hast zugesehen, wie es passiert ist. Du hast zugelassen, dass die anderen Teile Deiner Identität davon verdrängt oder gar aufgesaugt wurden. Die Dir immer noch innewohnende Unwilligkeit gegen Deine heimliche Tätigkeit, der sich immer seltener regende Widerstand gegen Dein tödliches Spezialistentum, verschwand unter einem Pflichtbewusstsein, das Du schon länger nicht mehr hinterfragt hast. Um ein Diener des Kombinats zu sein, insbesondere in Zeiten wie diesen, muss man kühl und bedacht sein. Es gilt, zwischen den notwendigen Taten und dem Einsatz der verfügbaren Mittel zu balancieren, dem zu erhaltenden System, den Werten, für die es angeblich einsteht, und dem erzwungenen Frieden, den es angeblich bedeutet, zuzuarbeiten. Dass dieses System immer mehr Risse bekommen hat, dass der vermeintliche Friede in offenen Krieg umgeschlagen war, hatte Dich erst zu interessieren begonnen, als es unvermeidlich geworden war. Doch auch dann hat Dein Engagement, hat es auch Dein Gewissen etwas erleichtert, Deine Situation nicht verbessert. Dein Aufenthalt in dieser elenden Kleinstadt in der östlichsten Provinz des Reichs hat nicht unwesentlich mit Deinen lange Zeit unwidersprochen durchgeführten Arbeiten und Deinem einzigen, kurzen Widerspruch zu einem besonders ungünstigen Moment zu tun. Davon wird an anderer Stelle mehr zu lesen sein, jetzt musst Du Dich auf den Jahrmarkt, diese von Dir eigentlich seit Kindertagen zutiefst verachtete und als minder eingestufte Unterhaltungsform, einstellen. Doch hier wird die Stadtbevölkerung versammelt sein, hier wirst Du etwas lernen können, schneller und effektiver. Hier wirst Du ihnen außerdem eine Lektion erteilen können, ganz nebenbei, und Du wirst, wenn Du Glück hast und Dich geschickt anstellst, ein paar der Wölfe enttarnen, die unter diesen von Dir verabscheuten Schafen noch immer unbehelligt leben. Sie und Du, das wird Dir hier in der Enge des Postamts wieder deutlich, ihr seid nicht von der gleichen Art.
Die Buden und kleinen Hütten des Jahrmarkts sind auf einem weitläufigen Platz und einem angrenzenden, unbetonierten Feld, das am nahen Waldrand entlang verläuft, aufgebaut worden, ganz einer kleinen Stadt gleichend, die sich inmitten einer größeren entfaltet und ihre ungewöhnliche Belagerung gleich inmitten der Mauern der einzunehmenden Siedlung begonnen hat. Die papierenen Ankündigungen, die billigen Plakate mit ihrer Unausgewogenheit in Typografie und Bild haben nichts versprochen, was hier nicht geboten wird. Die durch das Kombinatsgebiet wandernden Schausteller haben flink ihr Reich aufgeschlagen, das nur eine Nacht währen soll und nichts zurücklassen wird außer Müll, schweren Köpfen und leeren Börsen. Die Stadtbewohner drängen sich an Dir vorbei, während Du zwischen den Buden scheinbar planlos herumläufst, getragen von einer oberflächlichen Begeisterung, die