Sophienlust Classic 48 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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Denise von Schoenecker atmete tief auf. Dann strich sie sich mit der für sie typischen Bewegung das Haar aus dem Gesicht und ließ sich in den bequemen alten Ledersessel zurücksinken. Der junge Rechtsanwalt Dr. Lutz Brachmann lachte sie an und sammelte die Papiere ein, die den großen Tisch bedeckten.
Denises Blick ging durch den Raum. Er war dunkel und doch anheimelnd. Das helle Sonnenlicht wurde durch die hohen Bäume des Gartens gebrochen und gab dem Raum einen grünlichen Schein. Die holzgetäfelten Wände erschienen dagegen fast schwarz. Hinter dem mächtigen Schreibtisch des Rechtsanwalts ragte ein Polsterstuhl mit einer hohen Lehne hervor. Um den Konferenztisch, an dem beide saßen, stand eine Sitzgarnitur aus tiefgrünem Leder, das an einigen Stellen schon etwas abgeschabt war und deutliche Altersspuren aufwies.
Abermals lächelte Dr. Brachmann, als er Denises Blick bemerkte.
»Ich habe nichts verändert«, sagte er mit seiner leisen und doch volltönenden Stimme. »Ich habe alles so gelassen, wie es der alte Herr liebte. Er soll sich wie zu Hause fühlen, wenn er ab und zu einmal in die Kanzlei kommt.«
Denise nickte verstehend. »Man könnte den Eindruck gewinnen, im Arbeitszimmer eines Londoner Rechtsanwalts zu sitzen – Brachmann, Brachmann und Brachmann, mit der Tradition einer jahrhundertealten Familie von Rechtsgelehrten, in der sich der Beruf vom Vater auf den Sohn und den Enkel vererbt.«
»Du könntest recht haben«, bestätigte Dr. Brachmann, »nur musst du dir die modernen Anlagen wie Telefone und Diktiergeräte wegdenken. Im Vorzimmer musste ich natürlich manches verändern. Ohne die moderne Technik lässt sich heute eine Rechtsanwaltskanzlei nicht mehr betreiben.«
»Ich habe es ja ebenso gehalten«, erwiderte Denise versonnen. »Im Biedermeierzimmer der Urgroßmutter von Wellentin habe ich keine Änderungen vorgenommen, obwohl wir ansonsten Sophienlust tüchtig renoviert haben.«
Sie hatte sich den ganzen Nachmittag mit dem Rechtsanwalt beraten. Es ergaben sich immer wieder Rechtsfragen, die geklärt werden mussten. Zum Teil hingen sie mit dem Schicksal der Kinder zusammen, die ihr anvertraut waren und die Sophienlust beherbergte, zum anderen aber auch mit der Verwaltung des großen Gutes. Dr. Brachmann erledigte die meisten Rechtsgeschäfte selbstständig, doch gab es immer wieder Fragen, die nur Denise selbst entscheiden konnte.
Claudia Brachmann steckte den Kopf durch den Türspalt herein. »Seid ihr endlich fertig?«, fragte sie. »Du musst ja ganz erledigt sein, Denise. Dieser Barbar lässt dich nicht los, bevor nicht auch die letzte Angelegenheit geklärt ist.« Sie trat in das Zimmer und begrüßte Denise mit einem Kuss auf die Wange. »Kommt jetzt herüber«, forderte sie ihren Mann und ihre Freundin auf. »Ein Kaffee wird euch guttun.«
Denise erhob sich, und Dr. Brachmann folgte ihr und seiner Frau in das gemütliche Wohnzimmer.
Denises Anspannung klang langsam ab. Die Besprechungen mit Lutz waren immer sehr anstrengend, aber sie mussten sein. Nun tat es wohl, mit den alten Freunden zusammenzusitzen und von vergangenen Zeiten zu plaudern.
»Als wir uns zum ersten Mal sahen, Denise«, ulkte Dr. Brachmann, »hätte ich nie gedacht, dass ich durch dich eine Frau kennenlernen würde, die ihren Mann bei seiner besten Mandantschaft schlechtmacht. Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?«
Claudia protestierte heftig, aber Denise ging auf seinen Ton ein. »Und ob! Es war bei der Testamentseröffnung. Damals nahm ein würdiger Rechtsanwalt und Notar die Amtshandlung vor. Ein junger Rechtsanwalt begleitete ihn, der sich soeben bei seinem Vater die ersten Sporen verdiente.«
Lutz lachte. »Die Situation werde ich nicht vergessen. Ich hatte Zeit und Gelegenheit genug, meine Umgebung zu beobachten. Ich muss noch heute lachen, wenn ich an die verblüfften Gesichter der Wellentins denke, als sie dich und deinen Sohn vorfanden und den veränderten Inhalt des Testamentes der alten Frau von Wellentin zur Kenntnis nahmen. Dominik schaute ganz verloren drein und drängte sich an dich, Denise. Er war damals noch viel zu klein, um zu begreifen, dass er mit einem Schlag der Erbe eines großen Vermögens geworden war. Hubert von Wellentin aber platzte fast vor Wut.«
»Wir sollten das vergessen«, meinte Denise ernsthaft. »Dominiks Großeltern haben sich längst geändert. Sie sind liebenswürdige Menschen geworden. Hättest du damals für möglich gehalten, dass Irene und Hubert von Wellentin ein armes kleines Mädchen adoptieren und es wie ihre eigene Tochter lieben könnten?«
»Sie haben an Kati all das gutgemacht«, mischte sich Claudia in das Gespräch ein, »was sie an dir und Nick versäumt haben. Denkst du noch hier und da daran, Denise, wie schwer du schuften musstest, um dich und deinen Sohn durchzubringen? Die Tänzerin Denise Montand musste damals jedes Engagement annehmen, um die hohen Unterhaltskosten für das Schweizer Kinderheim aufbringen zu können, in dem sie ihren Sohn Dominik untergebracht hatte. Ich jedenfalls kann mich noch gut daran erinnern, wie du manchmal vor Sehnsucht nach Nick beinahe umkamst.«
»Du hast mir sehr geholfen, Claudia. Ohne dich hätte ich es nicht durchgestanden. Und heute dürfen wir alle froh und glücklich sein, dass sich alles zum Guten gewendet hat. Allein schon der Gedanke, wie segensreich sich die Bestimmung der alten Frau von Wellentin, aus Sophienlust ein Kinderheim zu machen, für viele Kinder und deren Eltern ausgewirkt hat, erfüllt mich mit Genugtuung.«
»Wobei wir nicht vergessen wollen«, wandte Lutz Brachmann ein, »dass es eine gewisse Denise von Schoenecker war, die den Buchstaben mit Leben erfüllt und aus dem Gut eine echte Heimat für verlassene und elternlose Kinder gemacht hat. In Sophienlust finden Kinder das Wichtigste, das es für sie gibt: die Liebe.« Dr. Brachmann hatte bis zu diesem Augenblick ernst gesprochen, doch nun schlug seine Stimmung um. Immer zu humorvollen Bemerkungen aufgelegt, fuhr er fort: »Ich weiß nicht, woran es lag. Aber als du, Denise, eines Tages ein ehemaliges Karbolmäuschen zu deiner Unterstützung herangezogen hattest, war es um mich geschehen.«
Claudia, eine alte Freundin von Denise, war Krankenschwester gewesen, ehe sie nach Sophienlust gekommen war und Lutz Brachmann geheiratet hatte. Jetzt stürzte sie sich mit hocherhobenen Fäusten, komisch drohend, auf ihren Mann. Lutz fing sie lachend auf und nahm sie in seine Arme. Da Claudia das Spiel noch nicht aufgeben wollte und sich sträubte, brachte Lutz nur mühsam, unter Lachen und nach Atem ringend, hervor: »Du musst mich zu Ende reden lassen, Claudia. Zu meinem Glück, wollte ich sagen.«
Denise hatte amüsiert dem heiteren Geplänkel des Ehepaares zugeschaut. Sie stand auf. »Man soll sich nicht einmischen, wenn Eheleute sich streiten. Ich gehe lieber.«
Trotz des Protests von Claudia und Lutz ließ sie sich nicht zurückhalten, sondern verabschiedete sich.
Von der Sonnenhelle des Nachmittags geblendet, schloss sie für einen Augenblick die Augen, als sie, von Lutz und Claudia geleitet, vor die Haustür trat. Die Kinder des Ehepaares kamen aus dem Garten gerannt, weil sie Tante Isi auf Wiedersehen sagen wollten. Sie winkten ihr noch nach, als Denise mit ihrem Wagen bereits um die nächste Straßenecke bog.
Denise überquerte den Marktplatz des Städtchens, in dessen Mitte ein alter Brunnen lustig plätscherte. Ihre Augen glitten kurz über die Fassaden der alten Häuser, die das Alter der Stadt widerspiegelten. Bald hatte sie das Städtchen hinter sich und bog in die Landstraße ein, die unweit von Sophienlust und Schoeneich vorüberführte.
Auf der verkehrsarmen Straße konnte Denise ihren Gedanken nun freien Lauf lassen. Das Gespräch mit den Freunden hatte die Erinnerung an vergangene Jahre wieder in ihr lebendig werden lassen. Claudia hatte recht, sie hatte schwere Zeiten erlebt, nachdem ihr erster Mann, Dietmar von Wellentin, den sie gegen den Willen seiner Eltern geheiratet hatte, noch vor der Geburt ihres Sohnes Dominik tödlich verunglückt war. In ihrem Stolz hatte sie die Wellentins nicht einmal über die Geburt des Enkels informiert. Die adels- und geldstolze Familie der Wellentins