Musterbrecher. Dominik Hammer
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Das LQFB wurde wie folgt umgesetzt: Wann immer ein Synaxon-Mitarbeiter ein Anliegen positionieren wollte, konnte es im Liquid-Feedback-System beschrieben werden – ohne Nennung des Namens. Wichtig war nun, für diese Initiative Unterstützung von anderen im Unternehmen zu erhalten. Denn damit eine Initiative überhaupt zur Abstimmung gelangen konnte, musste sie von zehn Prozent derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die sich für ein Themenfeld angemeldet hatten, befürwortet werden. Diese Hürde sei ganz bewusst eingebaut worden, damit das Unternehmen von einer Unzahl von Initiativen verschont bleibe, so Frank Roebers damals. »Sie können sich vorstellen, dass es bei den Initiativen dicke und dünne Bretter gibt. Je nachdem, wie dick ein Brett, wie anspruchsvoll also ein Thema ist, geben wir kürzere oder längere Bedenk- und Diskussionszeit. Das hat sich bewährt.«
Für die Abstimmung galt dann: Alle Initiativen mit einfacher Mehrheit sollten umgesetzt werden. »Wir haben uns als Unternehmensleitung dazu verpflichtet, erfolgreiche Initiativen konsequent umzusetzen. Einige fand ich persönlich absolut sinnlos«, so Roebers. »Aber ich bin Bestandteil dieses Systems und würde beim LQFB nur dann von meinem Vetorecht Gebrauch machen, wenn Synaxon als Ganzes gefährdet wäre. Insofern schreite ich nur in Ausnahmefällen ein. Ich muss und will mit der Demokratie leben.« Der Mut, den Frank Roebers und die anderen Vorstände hatten, beeindruckte uns.
Nach sieben Jahren stellte sich heraus, dass eine Software, die Anonymität garantierte, nicht mehr benötigt wurde. Der CEO sagt heute: »In den ersten vier Monaten waren wir mit LQFB schwach gestartet, dann konnten wir vier Jahre ganz herausragende Ergebnisse erzielen und seit drei Jahren benötigen wir das Tool nicht mehr.« In der Anfangszeit war die Beteiligung nicht sonderlich groß. Man vermutete, dass es damals an einer unzureichenden Nutzerführung der Software lag. Auch die Qualität der ersten Vorschläge enttäuschte: So wurde etwa die Anschaffung eines Firmenfahrrads und eines Getränkeautomaten vorgeschlagen. Mit der Zeit besserte man die Software nach, und die Vorschläge wurden mutiger. »Die Mitarbeitenden hatten wirklich bahnbrechende Ideen. Es wurden uns gewünschte Karriereoptionen aufgezeigt, neue Modelle bezüglich Arbeitszeit und Arbeitsort wurden entwickelt. Die Geschäftsleitung wurde bei Personalentscheidungen kritisiert und Gegenvorschläge wurden gemacht. Außerdem konnten wir immer gleich nachvollziehen, wie groß die Zustimmung für diese Initiativen in der Belegschaft war, denn das bildete ja das System ab«, sagt Roebers. »Mittlerweile brauchen wir den Umweg über LQFB nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen schreiben ihre Vorschläge direkt ins Wiki oder melden sich mit ihren Anliegen bei der Vertrauensperson. Und wenn ich will, dass sich meine Mitarbeitenden zu strategischen Themen einbringen, dann mache ich einen Workshop, in dem sich Menschen in die Augen schauen können. Darum haben wir die Software mittlerweile abgestellt. Und zwar mit mehrheitlicher Zustimmung der Mitarbeiter. Wir hatten vorstandsseitig diesbezüglich eine LQFB-Initiative gestartet, die eine Mehrheit fand. Und zwar schlicht deswegen, weil die Aktivitäten komplett erlahmt waren. Es gab einfach keinen Bedarf mehr an Anonymität im Entscheidungsprozess.« Wir werfen in das Gespräch ein, dass das ja ein sehr gutes Zeichen sei. Roebers antwortet mit einem knappen »Ja« und fährt fort: »Was ich auch gemerkt habe: Je schlechter es uns wirtschaftlich ging, desto mehr wurde die Möglichkeit genutzt, anonym Initiativen zu starten. Je besser es uns ging, desto weniger Initiativen wurden gestartet. Ich weiß noch nicht, wie ich das einordnen muss. Sollte irgendwann wieder der Wunsch nach Anonymität bestehen, dann können die Mitarbeitenden, die diesen Bedarf sehen, sich einfach an die Vertrauensperson wenden, dann wird das System wieder eingeführt. Es wird dafür auch keine Mehrheit mehr benötigt.« Roebers macht eine kurze Pause und fährt dann fort: »Im Gegensatz zum LQFB nutzen wir unser Wiki immer noch sehr intensiv.«
Vor der Einführung von Liquid Feedback gab es bereits – und gibt es seit nun 13 Jahren – ein Synaxon-Wiki, das alle Prozesse und Zuständigkeiten des Unternehmens enthält, also das gesamte Firmenwissen. Jeder Mitarbeiter hat das Recht, Änderungen vorzunehmen, also beispielsweise den Einkaufsprozess neu zu strukturieren. »Seit der Einführung 2007 gab es über 500 000 Änderungen. Es war kein einziger Missbrauch dabei«, betonte Roebers bereits bei unserem ersten Treffen in Schwabing durchaus mit etwas Stolz. Nach nun weiteren sieben Jahren sind nochmals 200 000 Änderungen dazugekommen. Der Missbrauch blieb konstant bei Null. Dann erzählt er uns: »Was euch vielleicht interessieren könnte, in ein paar Monaten löschen wir das gesamte Wiki wieder.« Wir müssen kurz schlucken und fragen uns, warum das? Es müssten doch alle Prozesse optimal sein. »Wir fangen komplett neu auf einem weißen Blatt Papier an. Alle müssen mitentscheiden, was von dem alten Wissen rübertransportiert wird. Wir haben mittlerweile über 80 000 Artikel im Wiki und wollen nicht den gleichen Fehler machen wie die EU und uns überreglementieren, weil wir nicht in der Lage sind, alte Regeln zu löschen – entweder weil wir sie vergessen haben, oder weil sich keiner traut, sich davon zu trennen. Aktivitäten, mit denen wir experimentiert haben, wie zum Beispiel ›Löschtage‹ oder Ähnliches haben sich nicht als sinnvoll erwiesen. Also haben wir gesagt, wir schmeißen eine Bombe rein und fangen von vorne an. Und wer etwas retten will, der muss sich die Mühe machen, die Inhalte rüberzuschaffen. Vor 13 Jahren, als wir mit dem Wiki begonnen haben, sind wir von 120 000 Artikeln auf 4000 runtergekommen. Darum erwarte ich, dass wir dieses Mal von 80 000 auf 3000 kommen.«
Wir finden den Mut spannend, mit dem Roebers immer wieder Neues ausprobiert, sind aber erleichtert, als wir hören, dass für die wirklich wichtigen Themen die klassischen Gespräche von Angesicht zu Angesicht dringend benötigt werden. Die analoge Welt hat sich einen Teil der digitalen wieder zurückerobert.
Der Frage, ob er nach vielen Jahren agilen Arbeitens in der digitalen Welt auch glaube, dass echte Führung gerade in diesen Zeiten viel analoger denken müsste, stimmt Roebers sofort zu. »Digitale Systeme haben unser Arbeiten als Führungskräfte massiv erleichtert. Aufgrund von sehr guten Videokonferenz- und Instant-Messaging-Diensten haben wir zum Beispiel bedeutend mehr Zeit, einfach weil wir nicht mehr so viel reisen müssen.« Im agilen Projektmanagement habe man sogar einen Quantensprung gemacht. Es sei aber nie die Technik selbst, sondern es hänge auch hier davon ab, wie man im analogen Leben unterwegs sei. Wer gut organisiert sei, der profitiere massiv; wer nicht, verliere sich in der digitalen Welt.
Roebers bringt es abschließend auf den Punkt: »Durch die Effizienzsteigerung aufgrund der digitalen Möglichkeiten habe ich für die essenziellen Themen mehr Zeit. Darum ist tatsächlich die Hauptlast in meinem Führungsalltag ›analoger‹ geworden.«
Was bedeuten die gewonnenen Erkenntnisse für die zeitgemäße Ausgestaltung der Führungsaufgabe? Sie wird zweifellos schwieriger und intensiver – und sie sollte ganz in Roebers’ Sinne »analoger« werden. Die Beziehung der Führungskraft zum Mitarbeitenden, zu seinen Ideen, aber auch zu seinen Problemen, rückt in den Vordergrund und kann maximal digital unterstützt, niemals aber durch Digitalität ersetzt werden.
In allen Fällen geht es darum, das unterschiedliche Naturell von Menschen zunächst einmal anzunehmen.
Zudem