Musterbrecher. Dominik Hammer

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Musterbrecher - Dominik Hammer

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dass in der modernen Gesellschaft sehr viel über das Verlassen bekannter Pfade gesprochen wird. Vorbilder sind offensichtlich nicht mehr die Bewahrer, sondern die Andersmacher. Die Fortsetzung dessen, was bekannt ist, hat keinen guten Ruf mehr. Vielmehr ist der Rebell in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zum verehrungswürdigen Vorbild geworden. So sind auch im Management die entsprechenden Vokabeln des Andersmachens zum Bestandteil des Grundwortschatzes geworden: keine Konferenz mehr ohne »Out-of-the-box-Vortrag«, und sowieso wird alles »neu gedacht« oder »revolutionär designt«. Konformität ist zu einem Schimpfwort geworden.

      Auf der anderen Seite treffen wir unverändert auf Menschen, die über etwas ganz anderes berichten. Da ist von Erstarrung die Rede, überdies von Verhinderung jeglicher – angeblich von allen gewollter – Eigenverantwortung, gar von Entmündigung im großen Stil und vom Rückfall in alte Zeiten. Die Diagnosen sind jedem bekannt, der in einer oder für eine Organisation arbeitet: von Aufbruch zu neuen Ufern keine Spur!

      Wir fragen uns deshalb: Wie passen diese beiden Bilder zusammen?

      Auf der Hand liegt folgender Erklärungsversuch: »Andersmachen« ist bloße Rhetorik. Eingebettet in fröhliche Metaphern des Um- und Aufbrechens wird einfach so weitergemacht wie bisher. Die Fassade wird mit einem rebellisch anmutenden Graffito besprüht, während das Bestehende in aller Ruhe verschlimmert wird. Das Management trägt bei der Jahreskonferenz T-Shirts mit dem Aufdruck »Querdenker« – und macht einfach weiter wie bisher. Auf der Hinterbühne haben Theaterstück und Besetzung umso festeren Bestand, je mehr auf der Vorderbühne der Aufbruch inszeniert wird.

      Dies entspräche dann ganz dem von Erving Goffman in seinem Klassiker Wir alle spielen Theater beschriebenen Phänomen der Doppelrealitäten. Auf der Oberfläche wird Einzigartigkeit propagiert, hinter den Kulissen findet Einebnung statt. In der Organisationssoziologie der späten 1970er-Jahre bezeichnete man diesen Prozess als Isomorphie: Organisationen gleichen sich einander immer mehr an, weil sie sich der Gesellschaft gegenüber legitimieren und den allgegenwärtigen Professionalitätserwartungen entsprechen müssen. Unternehmen müssen bestimmte Technologien und Prozesse nutzen, sie müssen zertifiziert sein, sie müssen Beauftragte für alle möglichen und unmöglichen Themen installieren. Andernfalls wird ihnen die Akzeptanz versagt, und sie gelten als unmodern. Im Grunde ist es noch drastischer, denn das Spiel endet abrupt, wenn die allgemein geltenden Regeln und Erwartungen verletzt werden. Ohne ISO-Zertifizierung ist die Teilnahme an vielen Ausschreibungen bereits zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hat. In diesem Sinne haben wir es in der Tat auch mit faktischen Zwängen zu tun, nicht nur mit impliziten und folgenlosen Erwartungen, die von außen herangetragen werden. Wer sich der Gleichförmigkeit entziehen will, muss damit rechnen, vom Feld verwiesen zu werden.

      Es wundert uns nicht, wenn Führungskräfte sich mit dem Verweis auf Sachzwänge aus der Verantwortung stehlen. Ein Musterbruch sei angesichts des Korsetts der externen Verpflichtungen gar nicht möglich, so die Einschätzung vieler Entscheider. Zugleich erleben wir Organisationen, die im Sinne einer Übererfüllung zusätzliche interne Zwänge produzieren. Das Korsett wird sozusagen ohne Not noch enger geschnürt, sodass am Ende niemand mehr zwischen selbst verschuldeter und zugemuteter Unmündigkeit zu unterscheiden weiß.

      Wir werden uns die Mühe machen, hinter die Bühne zu schauen und uns den Phänomenen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Es ist eben nicht damit getan, das offensichtliche Theaterspiel als solches zu entlarven und den Akteuren die Maske vom Gesicht zu reißen. Schließlich liegt der Verdacht nahe, dass es nicht ohne Grund zwei Bühnen gibt. Wenn Erkenntnis und Umsetzung so deutlich auseinanderklaffen, wie wir das regelmäßig erleben, muss irgendwo Komplexität im Spiel sein, Komplexität, die sich mit trivialen Mitteln nicht beseitigen lässt.

      Die Themen der folgenden Kapitel haben wir nicht zufällig ausgewählt. Es handelt sich um die Essenz sowohl unserer universitären Forschung als auch unserer beratenden Begleitung aus den letzten 15 Jahren. In diesem Zeitraum führten wir über 1000 narrative Interviews mit Menschen unterschiedlichster Positionen in unterschiedlichsten Organisationsformen und -größen.

      Diese Gespräche zeigten einerseits, dass es dringend angesagt ist, Begriffsarbeit zu leisten. Damit meinen wir keine akademische Übung, sondern schlicht die Notwendigkeit, sich der Substanz hinter gebrauchten Schlagwörtern zu nähern. Was ist gemeint, wenn etwa von Angst in Organisationen die Rede ist? Wieso sind Menschen gerade in einem Umfeld ängstlich, das maximale Sicherheit gewährleistet? Oder was bedeutet es, wenn von kollektiver Intelligenz die Rede ist? Können viele Menschen wirklich gemeinsam schlau sein – und welche Rolle spielt dann noch der Einzelne?

      Andererseits konnten wir aus den Interviews lernen, dass die weit fortgeschrittene Professionalisierung auf der Ebene der Instrumente und Methoden nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Ganz im Gegenteil: Man sehnt sich fast schon nach einer »De-Professionalisierung«, durch die unser Denken und unsere Verantwortung wieder gefordert wären. Anders ist es nicht zu erklären, dass Unternehmenslenker, Manager und Mitarbeiter zynisch von der »Perfektionierung des Falschen« sprechen, zu der sie permanent angehalten werden – und die sie letztlich selbst vorantreiben. Unsere Erfahrungen aus weit über 500 Workshops und Vorträgen zeigen, dass Manager 80 bis 90 Prozent ihrer Zeit damit zubringen, im System zu arbeiten, also das Bestehende nach konventioneller Logik zu verbessern. Dies geschieht gleichermaßen in der öffentlichen Verwaltung wie in globalen Handelskonzernen und mittelständischen Industrieunternehmen. Und genau das ist der Grund, weshalb wir die häufig gehörte Einschätzung »Das ist bei uns völlig anders!« nicht ganz teilen. Wenn man den Dingen auf den Grund geht, erweisen sich die Muster nämlich als erstaunlich ähnlich. Anders gesagt: Isomorphie lässt Branchenunterschiede verschwinden.

      Oder noch anders betrachtet: Während man von außen gesehen eine kunterbunte Landschaft von Organisationen zu erkennen meint, zeigt sich bei der Betriebsbesichtigung vor Ort, dass es weltweit nur einen einzigen Organisationsdesigner gibt: überall dieselben Systeme, dieselben Instrumente, dieselben Prozesse, dieselben Strukturen. Und überall dieselben Sorgen aus denselben Gründen: Ein Krankenpfleger hat keine Zeit mehr für das Patientengespräch, weil er die Pflegequalität immer genauer dokumentieren muss. Eine Vertriebsleiterin kann keine neuen Absatzwege ausprobieren, weil sie ihre Energie für die Verbesserung des Prozesses zur Außendienststeuerung ver(sch)wenden muss.

      Doch ab und zu wird man auf der mitunter ermüdenden Besichtigungstour auch überrascht und trifft auf mutige Menschen, die den Steuerungs- und Kontrollraum renoviert oder gar umgebaut haben. Manche haben den Systemen nur einen neuen Anstrich gegeben, andere trauten sich, vorgeschriebene System-Updates zu ignorieren, wiederum andere ließen vollkommen neue Komponenten bauen und versteckten sie geschickt in den alten grauen Gehäusen.

      Wir haben uns lange überlegt, ob wir den Begriff des Spielens im Buchtitel wirklich verwenden sollen. Es könnte schließlich der Eindruck entstehen, wir

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