Musterbrecher. Dominik Hammer
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Beim Lesen des Buches wird man früher oder später feststellen, dass sich manche Kapitel inhaltlich überschneiden, wechselseitig ergänzen, bisweilen aber Argumentationen oder Schlussfolgerungen vielleicht auch nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Diese Unschärfen liegen in der Komplexität der Sache. Das Herausschneiden einzelner Themen aus einer komplex gestalteten Themenlandschaft bleibt eine subjektive Setzung, die aber die Stringenz der zugrunde gelegten Struktur nicht tangiert.
Abschließend noch ein Hinweis: Wir haben uns nach langer Diskussion aus pragmatischen Gründen dazu entschlossen, mit den weiblichen und männlichen Formen von Substantiven uneinheitlich umzugehen. So wird, ohne dass irgendeine Absicht dahintersteht, in bunter Mischung von »Mitarbeitenden«, »Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern« und auch nur von »Mitarbeitern« die Rede sein. In allen Fällen sind Frauen und Männer gemeint.
München, im April 2020
Anmerkungen
1 Vogl, J.: »Das Loch in der Wirklichkeit – Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.05.2009, S. 23–24.
2 So der Titel seines Beitrags im Merkur-Sonderheft, 10/11-2011, »Sag die Wahrheit! – Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind«, S. 781 ff.
Spielfeld 1
UNSICHERHEIT WILLKOMMEN
Warum sich ohne Experimente nichts verändert
Im Frühsommer 2006 werden wir vom Leiter des sogenannten »Thinktanks« eines großen deutschen Versicherungskonzerns mit einem Forschungsprojekt beauftragt. Zu dieser Zeit lautet das Wort der Stunde: Exzellenz. Der Begriff schlägt damals ähnlich hohe Wellen wie zehn Jahre später der der Agilität. Unsere Aufgabe ist es, eine Studie zu erstellen: Einerseits sollen wir den Begriff »Exzellenz« und seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz aus der Vogelperspektive betrachten, andererseits aber auch ganz konkrete Beispiele – Benchmarks – recherchieren. Es geht nicht nur um Begriffsarbeit. Man erwartet von uns auch konkrete Handlungsempfehlungen.
Das Thema ist interessant. Seit vielen Jahren schon wird viel von Exzellenz gesprochen, und dabei ist keineswegs sicher, was wirklich damit gemeint ist. Geht es um »intelligente« Zusammenschlüsse von Universitäten und Unternehmen? Sind Exzellenzcluster eine Verbindung von Forschungseinrichtungen – oder nur eine neue Bezeichnung für konsequente Interdisziplinarität mit Bezug zur Ökonomie? Heißt jetzt alles exzellent, was irgendwie über dem Durchschnitt liegt – vergleichbar mit der weichspülenden Formulierung von Arbeitszeugnissen? Nach einem halben Jahr der Recherche in einem insgesamt fünfköpfigen Forschungsteam und nach einer Reihe von Interviews mit Wissenschaftlern und Wirtschaftspraktikern, Medizinern, Sportlern und Geistlichen bleibt unser Bild von Exzellenz diffus. Organisationen können sowohl trotz als auch aufgrund hervorragender Strukturen und Prozesse exzellent (oder das Gegenteil) sein. Manche sind exzellente Nachahmer, andere exzellente Vorreiter. Einige zeichnen sich durch die Exzellenz der Teams aus, andere durch die von einzelnen Mitarbeitenden. Für uns wird klar, dass es kein einheitliches Exzellenzverständnis gibt. Und es ist keine Karte in Sicht, die den Weg zur Exzellenz beschreiben könnte. Das Problem ist nur: Wir können am Ende des Forschungsprojektes kein Rezept präsentieren, was – wie man sich vorstellen kann – beim Auftraggeber keine Begeisterungsstürme auslöst.
Unser schlechtes Gewissen beruhigt sich etwas, als uns Franz-Josef Radermacher, Professor für Informatik, Vorstand des Kuratoriums der Global-Marshall-Plan-Initiative und Mitglied des Club of Rome, in einem Interview seine Sicht auf die Dinge schildert: »Meine Wahrnehmung des in der Wirtschaft dominierenden Exzellenzverständnisses? Es ist oft lediglich dummes Gerede, Marketing. Für mich beginnt es beim Menschen als sozialem Wesen. Ein richtiger Exzellenzbegriff hat nur als soziales Konstrukt Sinn.«
Es ist nicht verwunderlich, dass es uns nicht gelang, einen Masterplan zur Exzellenz vorzulegen. Schließlich muss jedes System seine eigene Exzellenz (er)finden. Und dieses Finden und Erfinden geschieht naturgemäß nicht in einem bereits abgesteckten Gelände. Vielmehr muss man sich in einen unsicheren Suchprozess begeben, den wir als »Experiment« oder »Versuch« bezeichnen wollen. Wir meinen damit einen mehr oder weniger wagemutigen Schritt in die Ungewissheit, von dem man noch nicht weiß, ob er gut oder schlecht ausgehen wird. Später werden wir sehen, dass er in keinem Fall scheitern kann.
In der Technik und in der wissenschaftlichen Forschung ist das Experiment ein Standardverfahren zum Erkenntnisgewinn.
Experimente sind dazu da, deduktiv gewonnene Erkenntnisse zu verwerfen oder zu bestätigen, andererseits stellen sie eine Basis für die Abstraktion von Beobachtungen dar. In beiden Varianten ist der Kern das Infragestellen der Wirklichkeit. Es ist in unserem Sinne unerheblich, ob man eine Hypothese zugrunde legt, die dann überprüft wird, ober ob man eine bis dahin nicht beobachtete Situation erzeugt. Es geht in beiden Fällen darum, sich vom Ergebnis »überraschen zu lassen«.3 Ziel ist das Entdecken von etwas brauchbarem Neuen oder von etwas nicht mehr brauchbarem Alten.
Beau Lotto ist Künstler, Neurowissenschaftler, Spezialist auf dem Gebiet der Wahrnehmung und Gründer des Lab of Misfits, eines Instituts, dessen Website auf der Startseite mit zwei richtungsweisenden Aussagen aufwartet: »All the world is a lab« und »Every moment, an experiment.« Lotto konkretisiert in einem TED-Vortrag seine Überzeugung wie folgt: »Wahrnehmung (Denken, Fühlen, Erleben, Handeln, Träumen …) ist in unserer Erfahrung begründet und verankert. Diese Perzeptionen sind primär unbewusste Prozesse individueller Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Wir sehen nicht, was da ist, sondern wir sehen zuallererst einmal das, was in der Vergangenheit sinnvoll war. Unser Sehen entspricht Erfahrungen, die wir im Vorfeld machten.« 4 Folglich werden unsere Wahrnehmungen von Mustern geprägt, die uns einmal halfen, ein Problem zu bewältigen, oder die uns für ähnliche Situationen nützlich erscheinen. Ständig suchen wir, bewusst und unbewusst, nach Mustern, die uns Sicherheit versprechen. Denn stets wurde in unserer Entwicklungsgeschichte unsere Existenz bedroht: Ist das eine Schmusekatze oder ein Säbelzahntiger? Wer hier unsicher war, wurde gefressen.
Das Gehirn hasst Ungewissheit wie die Pest! 5
Ungewissheit erzeugt Unbehagen, oft auch Angst, denn sie ist bei Weitem unangenehmer als eine Risikosituation. In der Entscheidungstheorie zeichnet sich Risiko dadurch aus, dass die sogenannten »Eintrittswahrscheinlichkeiten« bekannt sind. Oder anders ausgedrückt: Wir wissen oder glauben zu wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Problem auf- oder ein Zustand eintritt. Kennen wir diese Wahrscheinlichkeiten nicht, wissen aber – vielleicht aus ähnlichen Situationen –, dass Wahrscheinlichkeiten vorliegen müssten, bezeichnen wir das als Unsicherheit. Richtig schwierig wird es jedoch, wenn wir es mit Ungewissheit zu tun haben. Von dieser sprechen wir dann, wenn die Art möglicher Ergebnisse und folglich auch deren Eintrittswahrscheinlichkeiten unbekannt sind.
Zu jeder Zeit war menschliches Zusammenleben von dem Bestreben geprägt, Unsicherheit und vor allem auch Ungewissheit durch Schaffung einer bestimmten Ordnung zu vermeiden. Zu diesem Zweck