Lichter als der Tag. Mirko Bonné
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Manchmal fielen ihm die Augen zu. Er genoss, nichts zu tun zu haben. Weder hatte er Lust, Zeitung zu lesen, noch, sich den Bildband anzusehen, den Bruno mit sich herumschleppte, als würde sich dadurch von selber erledigen, was er über diese – Merz absolut rätselhafte – Schule von Barbizon schreiben musste. Der gehwegplattengroße Band lehnte zu Brunos Füßen an der Rücklehne des Sitzes vor ihm, denn er passte nicht in die viel zu schmale Gepäckablage des rappelvollen Großraumabteils, das in Wahrheit ein verkapptes Kleinraumabteil war. Und so schlief Bruno zwar, doch in gekrümmter Haltung, mit zusammengepressten Knien und mal einwärts, mal auswärts verdrehten Füßen.
Wenn er auch selbst die Lider schloss, gingen Raimund Merz wilde Dinge durch den Sinn. Es kam ihm vor, als würde er in sich hinein- und von einem schmalen Sims aus hinunterblicken in einen finsteren Schacht. Sturzbetrunken sah er sich dort unten auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Er hatte in den vergangenen drei Tagen einfach alles an Alkohol in sich hineingeschüttet, was im Haus zu finden gewesen war. Und jeden Mittag aufs Neue hatte er sich weisgemacht, im Keller nach etwas zu suchen, aber worum es sich dabei handelte, war ihm nie klar geworden. Jedes Mal, wenn er hinunterging, hatte er in den modrig kühlen Räumen eine Flasche Weißwein aufgemacht und gedankenverloren so lange daran genippt, bis ihm auffiel, wie wenig passierte, wenn man regungslos in einem Keller herumstand. Einen Weinkeller hatte er sich ausgemalt, der nicht bloß die Ausmaße der darüber liegenden Küche hatte, sondern so groß war wie das ganze Haus samt Garage und Garten. Und wo oben der Parkplatz war, der Wendehammer und die Stichstraße, dort erstreckte sich unter der Erde ein Korridor, da waren Gänge voller Flaschen, eine Halle voller Fässer. Als er wieder zu sich kam, war die Flasche jedes Mal schon fast leer gewesen, und wenigstens das hatte ihn noch erschreckt.
Noch immer blickte er aus dem Fenster, ohne jedoch länger Luzernen und Lupinen zu sehen oder die fremde Landschaft der Karlsruher Gegend, durch die der ICE seit einiger Zeit fuhr. Angestrengt dachte er über das hinter ihm liegende Wochenende nach. Einsamkeit und Trübsinn. Wut. Verwirrung, von einer anscheinend verstummten Welt umgeben zu sein. Er war sich vorgekommen wie in Lindas Lieblingswitz der Betrunkene, der nachts eine Litfaßsäule umkreist, immer aufs Neue um sie herumwankt und sie abtastet, bis er zu Boden sinkt und schluchzt: »Hilfe! Man hat mich eingemauert!« Sie hatten ihn sich selbst überlassen, und er wusste drei Tage lang nichts Besseres zu tun, als sich zunächst den ganzen guten Sancerre und später allen Grauburgunder einzuverleiben. Immer tiefer hatte er in den Abgrund zwischen seinen offenbar weit auseinanderklaffenden Empfindungen gestarrt, dabei über seine verlorene Jugend und alle unwiederbringlich vergangenen und vergeudeten Jahre Tränen über Tränen vergossen, und mit jeder Stunde, die von Freitagnachmittag bis Montagmorgen unbarmherzig ereignislos verstrich, war er überzeugter gewesen, dass was er aus den Flaschen so lange weltvergessen in sich hineingoss, bis es wieder aus ihm hinausfloss, gar nicht Wein war, sondern in Wahrheit Tränen. Tränen! Woher sollte sein Heulen denn kommen, warum hätte er sonst so haltlos geweint.
Am Mittag nach ihrem nächtlichen Streit hatte Floriane so laut, dass er es hören musste, unten im Flur Priska gefragt, ob sie am Wochenende mitkommen wolle zu ihrer Großmutter, und war dann, als keine Antwort kam, gegangen, hatte den Phoebus genommen, was sie sonst nie tat, und war, wie er annahm, an diesem Freitag in die Praxis gefahren.
Als er am frühen Nachmittag aufstand, fand er unten auf dem Ziertischchen nahe der Haustür ein großes gelbes, unbeschriebenes Kuvert, an dem ein Post-it-Zettel klebte.
»Guten Morgen, Papa! Den Umschlag sollte ich Dir von Mammi geben, doch Du hast so fest geschlafen.«
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