Lichter als der Tag. Mirko Bonné
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Lichter als der Tag - Mirko Bonné страница 13
Vielleicht war er herzlos; dennoch, gerade jetzt fand er es gemütlich im Bett. Nein, in Wahrheit war die Regennacht angenehm, das Durchrieseltwerden von Geräuschen, die ihm seine missliche Lage deutlich machten. Dieses aufwühlende Hinundhergerissensein! Denn das war er wirklich, hin- und her-, her- und hingerissen, ganz als stünde er unter dem Zauber eines machtvollen Zweifels, der ihn einerseits fühlen ließ, dass es auch um sein eigenes Leben ging, und andererseits, dass dabei alle Empfindungen seiner Kontrolle entglitten. So dunkel wie die Nacht schwebte etwas dunkel über ihm. Und die Dinge konnten binnen Sekunden eine Wendung nehmen, die alles von Grund auf veränderte. Wie oft ihm jetzt das Herz bis in den Gaumen hinauf schlug, kaum dass er sich ausmalte, was nicht alles mit seinem Leben passieren konnte.
Flori stand unverändert in der Tür. Sie wusste nicht, was in ihm vorging. Sie hatte es einmal gewusst, und Interesse daran gehabt. Aber jetzt sagte sie nichts, lehnte bloß stumm mit der Schulter am Rahmen und blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Zimmer und zu dem Bett, in dem er lag und die Tür im Blick behielt, gleichmütig, angenehm durchrieselt und absolut unschuldig.
Doch, sie hatten einmal genau gewusst, wie es um den anderen stand. Beide waren sie Verlierer gewesen, aber hatten jeder den Verlust hingenommen und waren nicht daran zugrunde gegangen.
Da war ein Moment gewesen, an den erinnerte er sich nur vage, so schwach wie an bedeutsame Dinge in der Kindheit. Flori und er mit einem Mal allein im Wald auf der Moräne. Ihre Nähe. Ihre Haut. Ihr Atem. Immer der Kummer. Und ihr Hinweglachen. Sein Begehren. Sein Begehren, das sich ablöste von Inger, obwohl er das nicht wollte. Wie lange ging das? Jahre, Wochen, Stunden. Irrweg der rein körperlichen Leidenschaft. »Moritz, ja!«, rief sie so oft, wenn sie miteinander schliefen. »Moritz, ja!«
Aber er war nicht Moritz.
»Deine Lügen«, so begann Flori schließlich, »ich habe sie ein für alle Mal satt. Auf der Stelle sagst du mir die Wahrheit, oder du lernst mich kennen. Glaub ja nicht, ich würde Rücksicht auf deine Tochter nehmen! Wo bist du gewesen, nachdem du dich heute Mittag mit einer Lüge in deinem Lügenbüro krankgemeldet hast? Sag mir ja nicht noch mal, du wärst in der Staatsbibliothek gewesen! Ich habe am frühen Abend in der Stabi angerufen, es hat dich dort keiner gesehen, seit Wochen nicht, und nach Hause gekommen, nach neun Stunden, bist du ohne ausgeliehenes Buch, dafür durchgeschwitzt bis auf die Knochen! Raimund, du hörst mich. Lüg mich nicht an. Ich bin deine Frau. Ich bin fast fünfzig und kenne dich seit über vierzig Jahren. Ich habe verdammt noch mal ein Recht darauf, dass du mich nicht belügst. Ein letztes Mal: Wo warst du?«
Wo er gewesen war, Inger und Pippa und womöglich Moritz, wenn der noch lebte, dicht auf den Fersen, vor ihrem Haus, in ihrer Siedlung und an der Schule des Mädchens, das konnte er nie und nimmer zugeben, Floriane würde es weder verstehen noch ihm verzeihen. Stimmte denn, was sie behauptete, hatte sie ein Recht darauf, dass er sie nicht belog? Nein, nur darauf, nicht verletzt zu werden. Wo also war er gewesen in diesen neun Stunden, die sich vor seinem geistigen Auge zusehends in eine Leerstelle, eine Lebenslücke verwandelten? Allmählich wusste er selbst nicht mehr, wie er den Nachmittag und den Abend verbracht hatte, und minütlich fühlte er deshalb deutlicher die Notwendigkeit, etwas erfinden zu müssen.
»Ich denke nicht, dass du vierundzwanzig Stunden am Tag zu wissen brauchst, wo ich mich aufhalte, mein Schatz«, sagte er in einem Ton, der, um ihm Zeit zu verschaffen, eine bodenlose Frechheit sein sollte.
»Ach?«, lautete Florianes prompte Reaktion. Ihre Stimme hob sich. »Ach nein?« Schon fing sie an zu kreischen. »Seit wann denn das? Seit du hier allein das Sagen hast? Oder seit du heimlich Jugendfreundinnen triffst, mit denen dich noch etwas ganz anderes verbindet, wie du sehr gut weißt!«
»Ich habe hier nicht allein das Sagen. Aber du hast es genauso wenig«, sagte Merz ruhig. Er gab sich betont gelassen, um auch dadurch den Anschein zu erwecken, dass ihr Verdacht absurd war. »Sobald wir uns in diesem grundsätzlichen Punkt einig sind, will ich gern sehen, ob ich dir anvertrauen möchte, wo …«
»Ich gebe dir neun Sekunden«, fiel ihm Flori ins Wort. »Bis dahin sagst du mir entweder, wo du heute neun Stunden lang deine Finger gehabt hast, oder …«
»Oder was?«
Flori sagte nichts.
Sie war wirklich furchtbar aufgebracht. War das gerecht? Merz wusste sehr wohl, dass er kein hervorragender oder herausragender, kein großartiger, sondern höchstens ein mittelprächtiger, mittelmäßiger Mann und Mensch war. Er machte keinen Hehl daraus. Auch wenn sie den Unterschied gern verwischte, war er kein Nachrichtenredakteur, sondern Nachrichtenredaktionsangestellter. Immerhin schrieb er ab und zu, in jüngster Zeit allerdings häufiger, für den Tag. Ohne dass er es darauf anlegte, tauchte sogar die Chefredakteurin, Mareike Kennedy persönlich, nun ab und zu bei Bruno und ihm auf und fragte, indem sie groß wie ein Brauereipferd mitten im Zimmer stand, ob er nicht Lust habe, »mal wieder was über Krabbler zu schreiben«.
Er schien ein Händchen für naturwissenschaftliche Artikel zu haben, insbesondere für solche, die das Spezialgebiet Entomologie berührten, das hatte sich herumgesprochen und den Kollegen einigen Respekt abgenötigt, die Ehrfurcht der Bienen vor der Wespe sozusagen. Aber für gewöhnlich bestand sein Büroalltag dennoch aus Korrekturlesen, Korrespondenzpflege und, das vor allem, Hin-und-her-Gerenne. Er kannte den Keller des Magazins, in dem das Archiv lagerte, besser als der Hausmeister. Manchmal fragte er sich, ob nicht in Wahrheit er längst der Hausmeister des Tag war. Er musste überall und nirgends anwesend sein oder zumindest so tun. Aber bildete er sich deshalb gleich ein, unersetzbar zu sein? Aus eigener Erfahrung wusste er, dass dem nicht so war. Mehrere ältere Kollegen hatte man »freigestellt aufgrund suboptimal flexibler Skills«, wie es in der Sprache der zynischen Untoten hieß, mit denen Mareike Kennedy sich umgab; Mitarbeiter wie er waren gefeuert, verschrottet und entsorgt worden, und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, dass es ihm genauso erging. Immerhin war er kein Popanz. In seinem Privatleben, in seiner Freizeit gab er sich Mühe, ein guter Vater und nach Kräften Vorbild und Ratgeber seiner Töchter zu sein, und auch als Ehemann hatte er sich nichts oder kaum etwas vorzuwerfen. Er war für seine Frau da, wenn sie ihn brauchte, und das seit einer Ewigkeit. Er nahm Floriane in Schutz vor ihren Schwestern, die dreimal hartherziger waren als sie, und er hatte seine Frau nie betrogen, und wenn er es hätte, wäre es nicht oder kaum der Rede wert gewesen, weshalb sie auch nichts davon zu wissen bräuchte. Mit Inger war es damals, als sie und er endlich zueinandergefunden hatten, etwas völlig anderes gewesen, mit Betrügen oder Hintergehen hatte es rein gar nichts zu tun. Ein einziges Mal war er aus allem herausgetreten und hatte etwas zuwege gebracht, das man einem wie ihm nie zutrauen würde. Aber, und das war es, was er sich fast jeden Tag mit gutem Gewissen sagte, er hatte es nicht für sich getan, sondern aus Freundschaft, zumindest anfangs. Außerdem wusste Flori so gut wie alles. Und es war so lange her! Verletze sie nicht. Tu der Mutter deiner Kinder nicht unrecht, dann bringst du deine Ehe und Familie nicht in Gefahr und dein Leben nicht aus dem Gleichgewicht, sagte er sich seither.
»Ich war in Ohlsdorf«, sagte er nach etwa neun Sekunden.
»›Ich war in Ohlsdorf‹!«, machte sie ihn nach. »Als ob das nicht schon die ganze Straße wüsste! Liegt hier und ruft ›Ohlsdorf!‹ durch die Nacht. Wieso, will ich wissen, wo genau, will ich wissen, mit wem und bei wem, will ich wissen, warst du in Ohlsdorf!«
Allmählich wurde es ihm zu bunt. »Was hast du gegen Ohlsdorf?«, fragte er ehrlich erstaunt. »Hast du eine Ohlsdorf-Phobie?«
Er lachte, aber nur in sich hinein.
»Sag es.«
»Was?«