Lichter als der Tag. Mirko Bonné
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Читать онлайн книгу Lichter als der Tag - Mirko Bonné страница 8
Erfüllt von Heißhunger auf etwas Süßes, trieb es ihn durch den ehemaligen Dorfkern, der nun »Einkaufsdorf« hieß und das Zentrum des Stadtviertels an der noch immer grünen Peripherie bildete. Dort stand eine Backsteinkirche, an deren rotem Türmchen ein schlaffes Refugees welcome-Banner hing. Es gab eine Sparkasse, in der der dicke Junge seine Ausbildung würde machen können, eine Post, einen Italiener, eine Bäckerei mit Namen »Bäckerei«, ein paar Läden und ein Eiscafé, vor dem wie vom Himmel gestürzt lauter Kinderfahrräder und Roller auf dem Bürgersteig lagen.
Es gab kein Entrinnen. Zorn und Aufgewühltheit machten höchstens die Schranken deutlicher, gegen die einer wie er mit dem Kopf voran anrannte. Existierte denn eine Mauer, die sein Leben umgab, sein Haus, die Stadt, das Land? Nein. Oder ein freies, offenes Feld, auf das man jubelnd hätte hinausgelangen können? Nein. Wo war alles besser, lichter, freier und anders? Nirgends? Ja. Und das hieß?
»Druckertankstelle«, sagte Merz laut. Das stand über einem der Geschäfte.
Druckertankstelle. Im Grunde war alles zum Weinen.
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Linda die Sachen ihrer Mitschüler vielleicht deshalb an sich nahm, weil sie die Dinge in ihrer Unglückseligkeit durchschaute und verschwinden lassen wollte. War das möglich?
Hab keine Angst, sagte er sich, als er parkte, und seltsam, dieser Gedanke erleichterte ihn.
In der »Bäckerei« waren die beiden Bäckereifachverkäuferinnen, eine junge und eine ältere, am Zusammenräumen und Ausfegen. Nur noch wenige Brote lagen in den Regalen, darunter die Schüttfächer für Schrippen und andere Brötchen waren schon leer.
Durch die Tresenscheiben betrachtete er das restliche Gebäck, übrig gebliebene Florentiner, Nussecken, Plundertaschen, Makronen und Amerikaner, schillernd in gelbgoldenem Licht. Fast alles sah klebrig aus und unappetitlich, und die paar Kuchen- und Tortenstücke, die noch auslagen, wirkten wie in der Hitze immer wieder zerflossen und von den beiden wortlos vor sich hinarbeitenden Verkäuferinnen mühsam ein ums andere Mal zusammengeschoben.
»Was darf es sein?«
Dutzende Wespen krabbelten über die glasierten Kekse, Striezel und Schnecken. Man sah die Schleifspuren ihrer Hinterleiber im Zuckerguss, die Abdrücke ihrer Hakenbeine und die Löcher und Lücken, die ihre Zangen in den Mürbeteig rissen.
»Sie wünschen bitte?«
Es waren große, kleinere, ältere und junge Tiere. Auf Anhieb erkannte Merz mindestens drei verschiedene Arten.
Er blickte der Verkäuferin ins Gesicht, konnte darin aber keinerlei Regung erkennen. Ausdruckslos sah ihn die junge Frau an, und Merz fragte sich, ob er auf sie wohl den gleichen Eindruck machte. Er stellte sich vor, wie diese Auszubildende mit langem Hals und dürren Armen Stammkunden bediente, etwa Inger, die ein Graubrot verlangte. Oder wie am Sonntagvormittag Herr Rauch mit den letzten zehn quer über den Schädel gekämmten Haaren die wie üblich am Vortag bestellten Frühstücksschrippen abholen kam, mit dem Trekking-Rad, in Begleitung Pippas. Sie nannte ihn Moritz. Und er das Kind seinen Spatz. »Mauerritze« hatte Pippas Mutter früher zu ihm gesagt, sobald der gemeine Moritz aus dem allseits beliebten Moritz hervorkroch.
»Moritz … Maurids … Mauerritze!«, hatte sie gesungen.
Die meisten waren Deutsche Wespen. Aber auch einige Sächsische und ein paar Feldwespen hatte der süßliche Geruch in die Bäckerei gelockt. Sie mussten unten am Fluss oder drüben auf dem Friedhof ihre Nester haben. Auch ein paar Schwirrfliegen gab es, aber die waren allesamt tot, geköpft, zerschnitten, avocadogleich halb ausgehöhlt und verspeist von den Wespen. Wäre sie so groß wie ein Bussard, hatte Merz in einem seiner Hautflügler-Artikel geschrieben, die Sächsische Wespe könnte mit ihren Zangen ein Fahrrad in Stücke reißen. Die sich hierher verirrt hatten, wirkten abgekämpft und entkräftet. Schon seit Stunden suchten sie nach dem Ausweg aus der Zuckerhölle.
»Keinen klaren Gedanken kann man fassen bei so einer Gluthitze«, sagte er in der Hoffnung, damit sein Zaudern zu entschuldigen. »Oder kommen viele Leute zu Ihnen und kaufen frisch und munter ein Graubrot?«
Der erleichterten Verkäuferin huschte der Anflug eines Lächelns übers Gesicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, als wäre das eine Antwort.
Entweder sie wusste keine oder wollte keine geben.
»Geben Sie mir … eine Rosinenschnecke bitte.«
Die Feldwespe ernährte ihre Larven nicht mit Fliegenfleisch wie die Hornissen und die meisten anderen Wespenarten, sie verfütterte ausschließlich Bienenhonig.
Er zahlte und bedankte sich. Doch anstatt zu gehen, blieb er vor dem Tresen stehen und blickte die Verkäuferin teilnahmslos an.
Sie hatte eingefallene Wangen. Was dachte sie? Hau ab, weg, mach, dass du wegkommst?
Nichts fürchteten Honigbienen mehr als Honig witternde Wespen.
Er fragte die junge Frau, wie weit es zu Fuß bis zum Alsterufer sei.
Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn entgeistert an.
Aus dem Hinterzimmer, wo früher vielleicht die Backstube gewesen war und ein Bäcker ab drei Uhr in der Früh backte, Brötchen und Brot, rief ihre ältere Kollegin, die dort unvermindert mit dem Besen herumrumorte: »Am Kreisel rechts runter, dann sieht man schon das Wasser – wenn noch welches da ist!«
Sie lachte.
Und die Auszubildende kicherte.
»Heuschrecke«, sagte Merz zwar leise, aber vernehmlich, und riss dabei die Augen so weit auf, dass sie ihn fassungslos anstarrte. Wieder draußen in der Hitze, sah er sie durch das Schaufenster, in dem der Zucker zerfloss; nach Feierabend schaufelte sie ihn mit einer angewiderten Grimasse in den Müll. Arme, verängstigte Gebäckheuschrecke.
Im Schatten unter den Uferbäumen war es merklich kühler. Dennoch führten nur vereinzelte Leute ihren Hund aus oder gingen spazieren, und es joggte auch kaum jemand.
Über die Wege flimmerten die Muster des Lichts, das durch die dichten Baumwipfel bis auf den Erdboden fiel. Die unten in der Stadt zu zwei Seen aufgestaute Alster war hier oben im Hamburger Nordosten an ihren schmalsten Stellen nicht breiter als ein Feldweg. Steinerne kleine Brücken überspannten das Flüsschen. Erstaunlich schnell floss es dahin, morastig braun in der Sonne, unterm Blätterdach der Birken und Eschen hingegen dunkelgrün und golden leuchtend.
Im Gehen griff Merz immer hastiger in die Papiertüte und riss sich süße Happen von der klebrigen Schnecke, und er genoss es, sich dann jedes Mal neu den Zuckerguss von den Fingern zu lecken. Stundenlang hätte er so weiterlaufen können, allein mit sich, in diesem schönen Licht, in diesem angenehm kühlen Schatten am Ufer der ihren Blumenvasengeruch verströmenden Alster, mit dem Ausblick – gleich, ob er ein trügerischer war –, sein Leben endlich in die eigene Hand nehmen und die Dinge wohin auch immer biegen zu können. Als er aufgegessen hatte, zerknüllte er die Tüte in der Faust und bewarf mit dem Knäuel ein paar vorüberschwimmende Enten, die sich auf der Stelle über das Papier hermachten und es wie von Sinnen zerfetzten. War das zu fassen? Erschüttert, weil er merkte, wie ihm die Tränen kamen, blieb er stehen.
Die Enten schwammen weiter, und was von der Tüte übrig war, das ging unter und löste sich im Wasser auf, während er am Ufer stand, die