Lichter als der Tag. Mirko Bonné

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Lichter als der Tag - Mirko Bonné

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sich ihre Taschen, dann gingen sie zu einem Fahrradunterstand ganz aus Wellblech, wo sie ihre Räder aufschlossen. Schon gondelte ihr kleiner Pulk los, und Merz musste sich entscheiden, wie es weiterging.

      Sollte er ihr nachfahren?

      Deswegen bist du doch hergekommen.

      Also los! Er stieg in den Phoebus. Er fuhr, den Mädchen hinterher. Herausfinden, wo und wie sie lebte. Wissen, was aus Inger und Moritz geworden war. Nein. Nein, das war nicht der wahre Grund. So wäre es vielleicht gewesen, hätten sie sich in Berlin getrennt, wie Leute sich trennten, weil sich die Dinge nun mal änderten und das Leben trotzdem weiterging. Aber so war es nicht. Die Dinge hatten sich geändert, und das Leben war nicht weitergegangen. Es hatte nur den Anschein gehabt.

      Eins der Mädchen führte am Lenker ein leeres Fahrrad neben sich her, schon lange hatte er das nicht mehr gesehen. Und wie früher schon, als er selbst noch so jung gewesen war, freute ihn, das zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar Reiter, die er irgendwann mal – in der Nähe des wilden Gartens – dabei beobachtet hatte, wie sie zwischen ihren Pferden ein Fohlen mitführten, auf dem aber natürlich niemand ritt.

      Der Heimweg der Mädchen verlief entlang einer nicht enden wollenden Kastanienallee, die dem Alsterlauf folgte und auf der abendlicher Pendlerverkehr eingesetzt hatte. So wie am westlichen Stadtrand, wo Floriane, Pippa, Linda und er lebten, wälzten sich auch im Nordosten die Blechkolonnen tagtäglich unter den teilnahmslos vor sich hin rauschenden Bäumen hindurch, morgens stadteinwärts, abends wieder hinaus, dreihundert Tage und öfter im Jahr immer dasselbe. Die Jugendlichen schien es nicht zu kümmern. Sie hatten es nicht eilig und gondelten so dahin. Auf einmal aber bogen die Fahrräder ab, die Mädchen verschwanden zwischen lauter abgestellten Autos, die eine ganze, sacht eine Anhöhe hinaufführende Straße in eine einzige Blechhalde verwandelten. Unvermittelt fand sich Merz in einer Siedlung mit hunderten englisch anmutenden, weißgetünchten und beinahe vollkommen identischen Doppelhäusern wieder.

      Langsam, in sicherem Abstand, folgte er dem Pulk. Ein erstes Mädchen verabschiedete sich, und alle übrigen winkten und riefen der Schulfreundin noch etwas nach. Es war ein ruhiger, fast dörflicher Stadtteil, den er nicht kannte. Eine Katze überquerte ohne Eile die Straße. Berberitzenhecken umgaben Vorgärten mit symmetrisch gestutzten Weidenbäumen, aus deren Kronen hier und da eine Schaukel herabhing. In den Carports und Auffahrten parkten Familienkutschen, nicht selten ein neuer Phoebus. Sie lebt in einer Siedlung für Phoebusfahrer wie mich, dachte Merz, in einer Phoebussiedlung! Es gab Fahnenmaste. Es gab Gartenhäuser. Es gab Baumhäuser. Es gab Kanus und Kajaks unter Kanu- und Kajakabdeckungen. Es gab mit bunter Kreide auf den Asphalt gemalte Kopffüßer. Floriane hätte es als Neandertalersiedlung bezeichnet und sich darüber mokiert, zumal wenn sie gewusst hätte, dass auch Inger und Ingers Kind und vielleicht ihr Mann hier wohnten. Aber Merz hatte von den Neandertalern ohnehin eine abweichende Ansicht, seit im Radio berichtet worden war, dass sie sich vermutlich über Gesänge miteinander verständigt hatten, über ihre schönen Neandertalermelodien.

      Das leere Fahrrad, das eins der Mädchen neben ihrem herschob, im Grunde, dachte Merz, könnte darauf genauso Prissy sitzen. Er war froh, als das Mädchen abstieg und sich verabschiedete und die anderen weiterfuhren.

      Von da an waren sie nur noch zu dritt, und Pippa fuhr in der Mitte, auf einem blauen Hollandrad mit überall darauf lackierten weißen Wolken und je einem Korb am Lenker und auf dem Gepäckträger. An einem Kreisel, von dem mehrere völlig gleich aussehende Straßen abzweigten, blieb das Trio stehen. Die beiden anderen Mädchen umarmten Pippa, dann trennten sie sich, um in unterschiedliche Richtungen davonzufahren. Und auch er fuhr wieder an und weiter Ingers Tochter hinterher. Jetzt war sie allein, und als gäbe es einen Zusammenhang zwischen dem Kind und dem Licht, fiel Merz auf, dass es schon fast Abend war. Die Septembersonne stand tief jenseits hoher alter Bäume, die ein Wäldchen bildeten, um das erst Pippa und dann auch er herumfuhren. Er folgte dem Wolkenfahrrad durch immer schmalere Wohnstraßen und achtete mit jeder Minute vorsichtiger darauf, einen Abstand einzuhalten, der das Mädchen gar nicht erst Verdacht schöpfen ließe.

      Dann war es auf einmal so weit. Innerhalb eines einzigen Augenblicks endeten die ganzen Jahre. Am Rand des Wäldchens standen Einfamilienhäuser im Schatten großer, schwer belaubter Kastanien, dort lenkte Merz den Phoebus um eine Kurve, musste kurz stoppen, fuhr weiter und stellte fest, dass Pippa verschwunden war.

      Es gab nur vier Häuser, die infrage kamen, und alle sahen sie fast identisch aus. Doch er brauchte gar nicht lange zu suchen. In der Garagenauffahrt des zweiten stand das weiß getüpfelte Fahrrad, und auch wenn von dem Mädchen selbst nichts mehr zu sehen war, konnte er sich sicher sein, Pippas Zuhause gefunden zu haben. Fünf gusseiserne Buchstaben prangten an einem um das Haus laufenden weißen Mäuerchen: Rauch.

      Er wendete am Ende der Sackgasse, beobachtet von einem Jungen, der dort auf dem Bürgersteig stand und ihm vorkam wie ein Abbild von Moritz im Jahr 1973. Während der Phoebus lautlos an dem glotzenden Knirps vorüberglitt, blickte ihm Merz in sein Mondgesicht: Das Kind verzog keine Miene. Es war ein dicklicher kleiner Kerl, sommersprossig, stupsnasig, bebrillt und mit einer Zahnspange ausgerüstet, über die ab und zu seine Zungenspitze leckte. Wie oft hatte der Junge sie gesehen? Für ihn war Inger einfach die Nachbarin, Frau Rauch, und ihr Mann Moritz vielleicht ein Freund seines Vaters, jedenfalls kein Fremder, und Pippa passte womöglich auf ihn auf, wenn seine Eltern abends essen gingen, ab und zu bestimmt zusammen mit den Rauchs. Mit dieser Vorstellung fuhr Merz langsam, ohne dem Haus und seinem Mäuerchen weiter Beachtung zu schenken, zurück in die Siedlung, und als würde es aus ihrer Mitte aufragen in den Himmel, stand ihm noch lange das Kastanienwäldchen vor Augen.

      Bis er zu Hause in Sülldorf sein musste, weil sich Floriane sonst Sorgen machte oder ihr etwas spanisch vorkam, blieb noch Zeit. Beim Tag begann Bruno jeden Abend gegen halb sechs, den täglichen Kaffeebecher- und Pappschachtelmüll vom Schreibtisch zu räumen. Donnerstag. Linda ging seit Kurzem donnerstagabends zu einem Therapeuten, der, wie sie sagte, mit ihr über das redete, was in ihrem Leben nicht ihr gehörte. Prissy machte sich währenddessen um halb sechs auf den Weg zum ihr verhassten Hockeytraining. Ebenfalls donnerstagabends erledigte Floriane in der Ferdinandstraße die Praxiskorrespondenz, für die unter der Woche keine Zeit war, weil ihr die Leute mit Parodontitis und lockerem Zahnhalteapparat die Bude einrannten. An einem gewöhnlichen frühen Donnerstagabend lief Raimund Merz über die Fleetufer vom Büro zum Hauptbahnhof, stellte sich für eine Viertelstunde auf einen stilleren Fernzugbahnsteig und überließ sich für eine Viertelstunde seinen Gedanken. Hierin lag sein Glück. In diesen Minuten hatte er kein Alter, keine Pflichten, keine Fehler, keine Pläne, keinen Kummer. Von April bis Oktober konnte man sich fast sicher sein, dass ein leicht rosiges Licht die Bahnsteighalle erfüllte, und im Winter, wenn es meist zu trüb dafür war, reichten ihm die Erinnerungen an die Feldmark und die Vorfreude auf das kommende Frühjahr.

      Dieser Donnerstag aber war kein gewöhnlicher. War es überhaupt ein Tag? Er kam ihm wie aus der Zeit gefallen vor, und deshalb verdiente er auch eine andere Bezeichnung als ein x-beliebiger Tag, der nach dem Donnergott hieß. Es war ein Phoebustag. An diesem Abend nämlich war er weit entfernt von Hauptbahnhof und Tag-Redaktion unterwegs mit dem Phoebus. Je später er auf den Ring fuhr, umso weniger dicht wäre dort der Verkehr.

      Er musste was essen, ein Unterzuckerungsgefühl stieg in ihm auf, er wurde ungehalten, schön, endlich! War das nicht in Wirklichkeit ein Hochgefühl? In eine Birne, einen Apfel hätte er auf der Stelle die Zähne geschlagen und alles hinuntergeschlungen, Stiel und Kerne, Vorsicht, ein Obstvernichter am Steuer! Und zu einem, der darüber den Kopf geschüttelt hätte in einem popeligen Lexus oder Prius Plus an der Ampel neben seinem Sonnenwagen, hätte er rübergerufen: »Na, Grubengaul, wieder krummgeschleppt heute?«

      Das glotzäugige dicke Kind in Ingers Straße hätte er nicht einfach so davonkommen lassen sollen.

      »He, willst du Raumschiffkapitän werden?«

      Der

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