Lichter als der Tag. Mirko Bonné

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Lichter als der Tag - Mirko Bonné

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in grelles Licht, dann malte sich Merz die Philippinos auf einem elbabwärtsfahrenden Frachter aus, und jedes Mal kam es ihm vor, als erhelle das Gleißen auch seine Gedanken. Was ihm seit Tagen, wenn nicht Jahren unklar gewesen war, sah er mit einem Mal deutlich vor sich. So wie er fraglos wusste, dass Nacht war und er in seinem Bett unter der tapezierten Dachschräge lag, meinte er plötzlich zu begreifen, weshalb er nie wieder von Moritz gehört hatte und von dem früheren Freund nicht das Geringste in Erfahrung zu bringen war.

      Natürlich war es nur eine Vermutung, aber sprach nicht vieles dafür, dass Moritz gar nicht mehr am Leben war?

      Kein Mensch hätte Merz verständigt, wenn Moritz tatsächlich etwas zugestoßen war, keiner außer vielleicht Inger.

      Lange dachte er darüber nach, und die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, lösten immer neue aus, Bilder, die er viel zu lange verscheucht hatte, sobald sie aufgetaucht waren.

      Die Eltern von Moritz waren Ende der neunziger Jahre tödlich verunglückt, als sie mit ihrem Jaguar auf einer Landstraße der Ostseeinsel Fehmarn unter einen Sattelschlepper gerieten. Merz war ihnen stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn in nichts schien dieser Raimund auch nur entfernt etwas darzustellen, was ihren Sohn hätte voranbringen können. Was sollte so einer anderes sein als ein Bürschchen, und was aus so jemandem werden, wenn nicht ein Halbstarker und später irgendein Mensch?

      Raimund Merz lebte mit seiner Mutter in einem Reihenendhaus im unteren Teil des Dorfs. Die Mutter war zuvorkommend, wenn man anrief, um nach dem Verbleib des eigenen Kindes zu fragen, aber sie war, Gott, eine Verkäuferin. Ab und an ließ es sich nicht vermeiden, in dem Laden, in dem Frau Merz hinterm Tresen stand, ein paar Kleinigkeiten einzuholen; betretenes Schweigen. Der Vater wer weiß wo, die Mutter alleinerziehend und der Sohn eine Plage, widerborstig, mal maulfaul, mal rotzfrech.

      Hätten der Tanke-Rauch und seine Frau es noch erlebt, der Bruch ihres Sohnes mit dessen vermeintlichem Freund aus dem Unterdorf hätte sie nicht betrübt, eher erleichtert und bestätigt. Ja, erlöst! Man hatte diese sogenannte Freundschaft jahre-, jahrzehntelang hingenommen, mehr aber, nein, nicht. Wer war man denn?

      Als junger Mann hatte Arno Rauch, wie er gern herumposaunte, die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eh sie kahlköpfig war. Von allen außer dem Gemeindevorsteher belächelt, hatte er die Tankstellenruine am Ortsrand erstanden und Dach, Werkstatt und Zapfsäulen eigenhändig in Schuss gebracht. Über Wochen stand er in der hallenden Dunkelheit der zwei verrosteten unterirdischen Benzin- und Dieseltanks und schweißte dort, als wäre er persönlich der Schwelbrand in einem Kohleflöz.

      Als an der Tankstelle im Dorf schließlich wieder Autos hielten, bekam der junge Rauch von Gemeindevorsteher Alberich die Erlaubnis, um die Hand der Tochter anzuhalten und von Noras Mitgift zwei Tankstellen in Nachbardörfern zu erwerben. So wurde aus Arno Rauch der Tanke-Rauch.

      Jedes Jahr kauften Rauchs mindestens eine alte Tankstelle, ließen sie grundsanieren und rüsteten sie mit einer Waschanlage aus. Im Jahr, als Moritz zur Welt kam, gehörten seinen Eltern neunzehn Tankstellen zwischen Bad Oldesloe und Hamburg-Billstedt, »ein kleines Imperium«, hatte Merz gedankenlos einmal zu äußern gewagt und war dafür von seinem Freund so lange wie Luft behandelt worden, wie dessen Vater in der Erde unter seiner ersten Tankstelle mit dem Schweißbrenner geschuftet hatte.

      Achtundzwanzig, zweiunddreißig, vierunddreißig Tankstellen gehörten Rauchs zur Blütezeit der allgemeinen Kohlenmonoxid-Verpestung. Moritz machte seinen Führerschein und holte morgens mit dem alten Saab seiner Mutter den Freund ab, um über die neugebaute Autobahn zur Schule zu heizen. Es waren die gedankenlosen Jahre, satt und sorglos, die Jahre der Eigenliebe in den Zeiten der Kohl-Ära.

      Um auch diesmal alle Spuren von Selbstverschulden zu verwischen, wurde für den so unerwarteten wie unaufhaltsamen Niedergang des Tankstellenimperiums ebenso eine Freundschaft verantwortlich gemacht, allerdings dürfte die zu keiner Zeit eine echte gewesen sein. Es gab in der Gegend einen Mann, der für ähnliche Furore sorgte wie der Tanke-Rauch, und mit diesem Gebrauchtwagen-Hai ging Arno Rauch eines Tages, der wohl nicht zu seinen besten gehörte, eine fatale Verbindung ein, indem er Hajo Kossleck, den Auto-Kossleck, zu seinem Kompagnon machte.

      Merz sah die beiden siegesgewissen Männer wieder vor sich, während er im Dunkeln in seinem Zimmer lag und vor dem Fenster der Regen in die Sträucher brauste. Sie lehnten am Kotflügel eines riesigen BMW und grinsten, als würde ihnen beiden zu gleichen Teilen die Sonne gehören. Moritz’ Vater und der Auto-Kossleck waren überzeugt gewesen, mithilfe des anderen dem eigenen Glück Glanz und Dauer verleihen zu können. Aber daraus war nichts geworden, sogar weniger als nichts. Er war vielleicht zwanzig gewesen und hatte mit mäßigem Interesse, aber großem Staunen den Ruin von Moritz’ Vater mitverfolgt, als in den Jahren, in denen man an Tankstellen in ganz Stormarn und schließlich sogar Lübeck tanken, sein Auto waschen und einen Billiggebrauchtwagen kaufen konnte, Gier, Mauscheleien, Schlampigkeit und Arroganz Einzug hielten. Gebrauchtwagenverkäufer bedienten sich freizügig an den Zapfsäulen, Tankstellenangestellte erhielten großzügig Rabatte beim Autokauf. Für die Kunden wurde alles teurer und immer teurer, zugleich aber Waren und Service schlechter und schlechter. Irgendwann waren die Gebrauchtwagentankstellen der Gegend dermaßen berüchtigt, dass jeder, sogar einer wie Raimund Merz mit seinem Mofa, einen Bogen um alles machte, auf dem in geschwungener Schrift Rauch & Kossleck stand.

      Der Tanke-Rauch verscherbelte kopflos eine Tankstelle nach der anderen und musste sich am Ende doch von seinem Partner, mit dem er seit Jahren kein Wort redete, ausbezahlen lassen, woraufhin der Auto-Kossleck binnen drei Wochen alle in der Insolvenzmasse verbliebenen Rauch-Tanken abreißen ließ, um auf den Grundstücken supermoderne Waschanlagenstraßen zu errichten, die vorgeschriebene Bodensanierung aber vernachlässigte und an den Geldstrafen dafür dann gleichfalls so holterdiepolter bankrott ging, dass er sich nicht mal mehr nach Gomera aus dem Staub machen konnte.

      Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten, als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind. Mit dem alten Jaguar, einem dunkelgrünen XJ Baujahr ’75, den Hajo Kossleck den Rauchs zum fünfjährigen Firmenjubiläum geschenkt hatte und den Moritz gern die Blechflunder nannte, chauffierte der Sohn seine vom Übel der Welt gebeutelten Eltern noch einige Sommer lang nach Sylt. Als dort der Bungalow flöten ging, wichen sie notgedrungen aus nach Binz zu ihrer Ferienwohnung und, als auch die unter den Hammer kam, schließlich nach Damp in eine Pension, die Nora Rauchs früher mal beste Internatsfreundin betrieb. Und immer hatte Moritz vollstes Verständnis für die Selbstgerechtigkeit seines alten Herrn, sogar wenn der mittlerweile silberhaarige Tanke-Rauch ihn beim irrtümlichen Bleifrei-Tanken erst als allerletzte Träne im Ozean verunglimpfte und dann einmal mehr schulterklopfend und mit dumpfem Bass vor falschen Freunden warnte.

      War Merz das denn gewesen, ein falscher Freund? Ja, bestimmt zu der Zeit, als ihnen beiden Inger immer wichtiger wurde. Aber am Anfang, und auch grundsätzlich, nein. Sicher hatten sie beide, Moritz und er, viel zu hohe und von Beginn an uneinlösbare Ansprüche an ihre Freundschaft. Doch man veränderte sich, wurde älter, brauchte mehr und mehr Raum für seine Eigenheiten. Wo einmal kein Blatt Papier zwischen sie beide gepasst hatte, dort klaffte irgendwann ein Riss, ein Spalt, ein Graben und Abgrund, den keiner mehr schloss. Sie hätten Brücken bauen müssen, aber das war irgendwie nicht ihr Metier.

      Fest stand für Merz, dass er Moritz’ Vater Arno eigentlich gar nicht gekannt hatte. Als er noch der Tanke-Rauch gewesen war, hatte er mit ihm nie ein Wort geredet. Alles an seiner Dicke-Wampe-, Dicke-Knete-, Dicke-Karre- und Dicke-Hütte-Attitüde schien darauf abzuzielen, einen gesichtslosen Spund auf Distanz zu halten und ihm damit das Gefühl aufzuhalsen, mit dem sich der Pommernjunge Arno Rauchkowski nach oben schuften zu müssen geglaubt hatte.

      Einer wie Merz wusste, dass keiner sich irgendwohin schuftete, es sei denn unter die Erde. Man konnte nicht aufhören, alt zu werden, das war das Dilemma so vieler, die sich aus Angst vor der Stille, in der einen plötzlich die Dinge ansahen, flüchteten

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