Lichter als der Tag. Mirko Bonné
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Читать онлайн книгу Lichter als der Tag - Mirko Bonné страница 5
»Ich wäre ja gern mal bei so einem Die-in dabei«, sagte Merz trotzig und stellte sich vor, Bruno und er ließen sich in der Mittagspause an den Magellan-Terrassen mitten unter den ganzen Büromenschen aufs Pflaster fallen, als hätte sie der Schlag getroffen.
»Tot! Zwei Mitarbeiter des Tag in der Hafencity zusammengebrochen«, würde die Schlagzeile lauten.
»Nice«, sagte Priska. »Bei einem Die-in hätte ich am Flughafen auch gern mitgemacht, aber das haben die Lehrer natürlich abgeblockt. Gähn! Zu makaber. Abstürze und so. Nine-Eleven. Nicht mal einen Freeze haben die Sicherheitsmenschen vom Flughafen erlaubt. Gähn. Awkward.«
»Einen Fries?« Flori kniff die Augen zusammen, verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Hilfesuchend sah Prissy ihn an und verdrehte die Augen.
Merz sagte: »Bei einem Freeze bleiben alle wie eingefroren stehen und bewegen sich nicht mehr. Der Freeze ist das Gegenteil vom Tanz-Flashmob. Stimmt doch, oder?«
Priska nickte. Sie hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, deshalb beugte sie sich zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Love you«, sagte sie.
»Danke, wieder was gelernt«, sagte Floriane.
Merz beobachtete seine Frau: ihre Zerknirschung, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. So war sie schon als junges Mädchen gewesen. In Floris Augen waren Kinder eine eigene Spezies, auch ihre: »Neandertalernachwuchs«. Sie verstand Kinder nicht, und aus kindlichem Trotz wollte sie sie auch gar nicht verstehen, schließlich hatte sie früher auch keiner verstehen wollen. Kinder waren die Zukunft, aber sonst? Sie machten ihr Angst; über Linda, ihr Elsternkind, sagte Floriane oft, sie sei verrückt.
»Ich finde ja tanzen besser als sterben«, lachte sie. »Wie lang hat das Ganze denn gedauert? So ein Flashmob ist doch meistens eher kurz, dachte ich.«
»Na ja, halbe Minute. Dann kam das Transparent. Und dann war Schluss, und alle haben so getan, als wäre nichts gewesen. Das war noch mal echt krass.«
»Und dieses Transparent«, fragte Merz, »was stand da drauf?«
»Ein kurzer Satz von Wolfgang Borchert«, sagte Priska. Sie zuckte mit den Achseln und stand vom Tisch auf. »Das war nun mal – huhu! – die Vorgabe für den Flashmob-Tag. Heinrich-Heine-Gymnasium: zwei, drei berühmte Worte von Heini Heine. Wolfgang-Borchert-Schule: zwei, drei berühmte Worte von Wolfgang Amadeus Borchert. Gezeichnet: die Schubladenbehörde. Gähn. Awkward.«
»Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er überflüssigerweise.
Priskas unerbittlicher Kommentar lautete: »… und die andere Hälfte Arbeit, klar, Papa.«
»Was stand denn nun drauf?«, fragte Floriane.
Ihre Tochter war schon im Flur, als sie noch rief: »Was wohl? ›Sag nein!‹ Gähn. Say no.« Prissy lachte spöttisch, und kurz darauf flog oben ihre Tür zu.
Am Tisch fragte Floriane, als wären sie im Fernsehen: »Noch Salat?« Dabei sah sie ihn an, hob die Hände und flüsterte: »Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«
Es lag vielleicht an der Monotonie einer täglich vierundzwanzig Stunden lang abgesicherten Existenz, eher aber an der festgefahrenen Lage, ja der einzementierten Schieflage der späten mittleren Jahre, wenn ein Ehemann und Vater, ein erfahrener Mann wie Raimund Merz praktisch stündlich damit rechnete, dass alles in sich zusammenstürzte und die Trümmer wie Schaumstoff den Bach runtergingen.
Nie beglichene, uralte Rechnungen mussten dafür verantwortlich sein, wenn er drei Tage nach dem ersten Wiedersehen alle Vorsicht über den Haufen warf und auf die Suche nach Inger ging. Bei vollem Bewusstsein und doch wie von Sinnen stürzte er sich kopfüber in ein Wagnis, das ihn von Anfang an zugleich berauschte und verzweifeln ließ.
Hatten sie sich wirklich in Berlin zuletzt getroffen?
An ihrem letzten Abend am Müggelsee war es gewesen, im Garten ihres gemeinsam gemieteten Ferienhauses ein paar Kilometer südlich von Köpenick. Seither hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Moritz und Inger und Flori und ihm gegeben, und er war all die Jahre standhaft geblieben und hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, etwas über Rauchs in Erfahrung zu bringen.
Es gab von früher keine Freunde mehr, die einmal Moritz’ und auch seine gewesen waren, und so war der einzige Mensch in seinem Umfeld, der sich an Rauchs noch erinnerte, Floriane, der aber noch weniger als ihm daran lag, über den Verbleib der einstigen Freunde und des Kindes informiert zu sein. Flori war nie gut auf Pippa zu sprechen gewesen, und in ihren Augen hatte sie mehr als triftige Gründe dafür. Wie sollte die Tochter anders sein als die Mutter?
Als Merz an diesem Donnerstag zum allerersten Mal ihre Namen in die Maske der Suchmaschine eingab, war er verblüfft; denn nichts kam dabei heraus. Sie hatten keine Firma, kein Büro oder Atelier. Der große Architekt, der Moritz immer hatte sein wollen, war nicht mal ein kleiner, wie es schien. Und auch Inger war anscheinend weder als Künstlerin oder sonstwie freiberuflich tätig noch irgendwo angestellt. Beide waren sie in fast fünfzehn Jahren nie in Erscheinung getreten, sie waren weder Mitglieder eines Vereins noch bei einem sozialen Netzwerk registriert.
Als Niemand aufzutauchen und als Niemand wieder zu verschwinden war respektabel. Nur konnte man dazwischen wenigstens versuchen, auch für andere da zu sein, jemandem zu helfen oder zuzuhören. Aber wer tat das schon, er selber so wenig wie seine Frau, Flori so wenig wie Inger, die sich genauso stets nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte.
Ihre Malerei, ihre Adoptivtante, ihren Mann und später das Kind.
Und Moritz? Was gab er nicht immer an mit der Erfolgsgeschichte seines Vaters, erst recht, als der Tanke-Rauch längst alles verloren hatte! Moritz sah darin die Gelegenheit, jede ihm angeblich aufgepfropfte Unternehmerambition abzuschütteln, und brüstete sich fortan mit erfolgreichem Aufbegehren. Im Internet aber fand Merz kein einziges Foto von ihm und von den einstigen Tankstellen nichts als ein paar grobkörnige Aufnahmen verblasster, halb zerborstener Leuchtstofftafelsammlerstücke, auf denen der lange vergessene Firmenname zu lesen war: Rauch & Kossleck.
Wo wohnte man, wenn man niemand war?
Allem Anschein nach waren zumindest Inger und Pippa irgendwann aus Berlin zurückgekehrt und in den Hamburger Nordosten gezogen, denn weshalb sollte das Mädchen sonst auf eine Schule am Alsterlauf gehen?
Pippa war die Einzige, über die sich etwas herausfinden ließ. Offenbar war sie eine Zeit lang Kunstrad gefahren. Sie hatte ihre Plüschhundesammlung fotografiert und alle Bilder sorgfältig untertitelt und nach Größe und Farbe sortiert auf die Webseite einer Stofftierbörse geladen. Hatte Moritz ihr dabei geholfen? Es war wirklich rührend. Zumal man auf mehreren der süßen Fotos im Hintergrund die Mutter der kleinen Hundenärrin sah. Die Frau mit den lachenden Augen, über denen noch immer der alte schöne Schatten lag, war eindeutig Inger.
Aufgewühlt und reizbar, seit er am Morgen die Fotos im Netz gefunden hatte, aß Merz an diesem quälend heißen Donnerstag mit Bruno DeWitt in der Hafencity zu Mittag. Er ärgerte sich, ohne das Bruno zu sagen, über einen Aschenbecher vor ihnen, der unter seinem Deckel offenbar vor sich hin kokelte und einen üblen Geruch verbreitete. Es war dieser stinkende Ascher, mit dem kurz darauf ein abenteuerlicher