Lichter als der Tag. Mirko Bonné
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In diesem Zustand, der ihn außer sich sein ließ und doch ganz bei sich, ging ihm Floriane durch den Sinn. Was war der Grund dafür, sein schlechtes Gewissen, weil er Inger so unverfroren nachstieg? Er hatte kein schlechtes Gewissen. Er hatte fast ein Drittel seines Lebens auf diese Gelegenheit gewartet. Dennoch fühlte er sich seiner Frau mit einem Mal so verbunden wie seit Jahren nicht mehr. Wäre nur eine Übereinkunft mit ihr möglich! Aber nicht mal aussprechen konnte er sich mit Flori. Dabei war er sich sicher, dass sie beide noch immer der zornige Kummer verband, der sie vor so langer Zeit ein Paar hatte werden lassen.
Merz erinnerte sich an die heftigen Tumulte, nachdem Inger schwanger geworden war und ihre Viererfreundschaft am Müggelsee auseinanderbrach. Er dachte an die Zeit zurück, als Jahre später ihre Jüngste ein Baby war und abgesehen von ein paar Stunden am Nachmittag, wenn die Kleine erschöpft schlief, von morgens bis abends und fast jede Nacht aus Leibeskräften schrie. Linda brüllte, schien ihnen, wie kein Kind je gebrüllt hatte. Um zu schreien, schien sie auf der Welt zu sein. Es gab kein Gegenmittel, nichts und niemand konnte ihnen helfen. Durch nichts ließ sich das kleine Mädchen davon abbringen, seinen Schmerz, seine Verzweiflung oder was immer es war, der Welt entgegenzubrüllen. Sie verbrachten diese Monate in dumpfem Schweigen nebeneinander, zermürbt von einem Lärm, der nicht furchtbarer gewesen wäre, hätten sie in einer Wellblechhütte unmittelbar neben der Autobahn gelebt. Flori entdeckte schließlich wenigstens für sich eine stille Nische, indem sie sich täglich für ein paar Stunden hinter zwei Feuerschutztüren in einem lärmdichten Kellerraum verbarrikadierte. Während sie unten döste, ein kieferchirurgisches Fachjournal las oder einfach nur die weiße Wand anstarrte, ging er mit verstopften Ohren oben im Flur hin und her. Alles im Haus vibrierte, wenn das Baby brüllte. Priska, die drei war, bekundete des Öfteren ihre Verwunderung darüber, wie still die Welt war, sobald man draußen vorm Haus stand. Er hatte Lindy auf dem Arm und blickte aus vor Müdigkeit schmerzenden Augen fassungslos in den brüllenden Kinderrachen. Sein schreiendes Kind war von unbändiger Kraft. Alles, was es war, setzte es in jedem Moment aufs Spiel. Etwas stimmt nicht, schien ihm Linda schon als kleiner Wurm mitteilen zu wollen, etwas kann nicht richtig daran sein, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich selig war.
Blicklos, mit nach innen gekehrten Augen, saß Merz in seinem vor der Druckertankstelle parkenden Hybridauto und überließ sich seinen Erinnerungen. Damit die Klimaanlage die stickig heiße Luft im Wageninnern kühlte, stellte er den Motor an, und es dauerte nicht lang, da kam auf dem Gehweg ein verhutzelter Rentner vorbei und forderte ihn mit zwar stummen, aber abfälligen Gesten beharrlich dazu auf, zu verschwinden und nicht länger die Luft zu verpesten.
Durch die Windschutzscheibe sah Merz den Alten lange an, bewegte sich aber nicht. Erst als der Mann anfing zu pöbeln, zeigte er ihm die Faust, spreizte den Daumen ab, dann den Zeigefinger und zielte auf ihn wie mit einer Handfeuerwaffe, ehe er so lange auf die Hupe drückte, bis der erschrockene Greis fluchend das Weite suchte.
Merz ließ das Seitenfenster hinunter. »Ist was, bucklige Brotspinne?«, schrie er dem Rentner nach. »Bist du der, dem hier die Luft gehört? Mach, dass du wegkommst, du Luftbesitzer, oder ich fahr dich über den Haufen! Glaubst du nicht? Dann komm her, stell dich vor meinen Kühler! Ich fahr dich platt, so platt wie ein Blatt.«
»Raimund, bist du das?«
Merz war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Eine ihm unbekannte Frau rief nach ihm, eine Fremde mit allerdings vertrauter Stimme. War das möglich?
»Was machst du? Hör doch auf, was soll denn der Lärm!«
Wer rief da, wer war die Frau?
Er hatte sie nur im Augenwinkel gesehen. Jetzt blickte er über die Schulter und sah dort auf dem Bürgersteig neben seinem Auto Inger stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Sie trug enge Jeans, ein ärmelloses grünes Top und im Haar ein zum schmalen Band gefaltetes weißes Tuch. Sie hatte einen leeren Einkaufskorb dabei, er baumelte ihr von der Armbeuge.
Sie war eine Einbildung. Ein Phantom im Einkaufsdorf.
»Mama, wer ist der Mann?«, fragte das Mädchen, das hinter Inger stand und einen jungen Hund mit auffällig langen Beinen an der Leine führte. Der Hund bellte, er war rötlich braun, fast wie ein Fuchs, er kläffte in seine Richtung, und als Merz endlich aufhörte, wie besessen auf die Hupe zu drücken, erkannte er auch, dass das Mädchen Pippa war.
Ihm wurde bewusst, dass der Motor des Phoebus lief. Er konnte fahren, einfach wegfahren, ganz gleich, wohin.
»Sleipy, hör auf, sei jetzt ruhig. Aus, Sleipner!«, sagte das Mädchen zu dem Hund.
»Raimund, was machst du hier?«, fragte die Frau, die wie Inger aussah; sie blickte durch das Seitenfenster zu ihm herein, sie war keine Armlänge entfernt.
Merz starrte auf das weiße Band in ihrem Haar. Es war mit Blumen bestickt, kleinen bunten Blütenblättern.
Sleipner … der Name, er passte gar nicht zu einem so jungen Hund, so einer spiddeligen Töle … Mit diesem Gedanken gab er Gas – oder Strom –, und der Phoebus, der sonst nur so dahinsurrte, sprang aus der Parklücke. Er war der Fahrer eines Hybridfluchtwagens. Er raste davon, kachelte die Straße runter, weiter, immer weiter durch die Siedlung, aufgewühlt, aufgebracht, fluchend erst, dann stumm, und als er nicht länger floh, glitt er durch ein anderes, ihm genauso unbekanntes Viertel am nordöstlichen Stadtrand, Sasel oder schon Berne, er versuchte nicht zurückzudenken, sondern auch diese Begegnung zu vergessen, die zweite mit Inger innerhalb von vier Tagen, und hielt sie, als er dann irgendwann auf dem Weg nach Hause war, wirklich für nie geschehen.
Er hörte Musik im Auto, hingebungsvoll lauschte er jedem Lied eines alten Cure-Albums und dachte dabei nach über alles Mögliche, nur nicht über Frauen, Töchter, Vergangenheit, Jugend, sondern ganz andere Dinge. Was treibt die Wespen an, dachte Raimund Merz, ist es denn nicht Sehnsucht? Ein Verlangen nach Besänftigung, das unbedingt gestillt werden will?
Später hatte er mit Floriane und Priska auf der Terrasse gegessen, und am violetten Himmel waren Wärmegewitter aufgezogen, die bei Einbruch der Dunkelheit kühlen Wind vor sich hertrieben und mit weithin sichtbaren Blitzen und lautem Donnern von Westen den so lange ersehnten Regen brachten. Im Garten wogten die Baumwipfel. Geisterhaft peitschte es die Schlehen und Johannisbeerbüsche im Wechsel mit ihren Schatten hin und her. Windwellen liefen durch die Hecken, ehe sie übersprangen auf das Gras. Quiekend vor Freude an der eigenen Bangigkeit hüpfte Priska in Bikini und T-Shirt über den schwarzen Rasen und tat alles, um ihre Mutter zu einem Regentanz zu animieren, der aber Floriane bloß peinlich war und den sie lieber fotografierte: Priska Marie, wie sie die Hüften kreisen ließ, die nackten Arme flehend gen Nachthimmel reckte und schließlich laut jubelnd auf die Knie sank, um dem Regengott zu danken.
Unmittelbar überm Haus war dann das Gedonnere losgebrochen. Und mit einer einzigen machtvollen Bö hatte ein Wasserwind angehoben, der einen dichten Guss aus dicken warmen Tropfen über den Vierteln am Fluss, den Elbinseln und bestimmt dem ganzen Hafen ausschüttete.
Müde und ausgelaugt hatte er sich zurückgezogen und war zu Bett gegangen, in Unruhe versetzt von fiebrigen Erinnerungen an den Tag und irgendwie erregt und gleichzeitig angewidert von einem großen blasslila Strauß Blumen auf dem Wohnzimmerglastisch, wo er einen Duft verströmte, als hätte alles Übrige seinen Geruch eingebüßt.
Stundenlang lag er in seinem Schlafzimmer unter dem gekippten Fenster. Nur mit einem Laken zugedeckt, lauschte er dem besänftigenden Prasseln des Regens, der auf die knarrenden Baumkronen und die längst unter Wasser stehende Terrasse fiel.