Tausend Monde. Sebastian Barry
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Ich war mir sicher, dass Jas Jonski sich nicht scheute, in der Stadt seine Unschuld zu beteuern. Er gehörte zu einer Gruppe junger Männer in seinem Alter, die alles ausposaunten. Ausposaunten und Blech redeten.
Ich weiß noch, wie in den alten Tagen in der Prärie auch die jungen Lakota-Burschen gemeinsam unterwegs waren. Ich vermute, junge Weiße sind genauso. Ein Mädchen bleibt mehr für sich. Dennoch erinnere ich mich an die drei Tage Tanz, wenn ein Mädchen endlich ihren Mond bekam. An das Lakota-Wort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es bedeutete »Mond«. Ich erinnere mich an das Singen und Tanzen und daran, wie stolz man auf die junge Frau war. Als ich meinen Mond bekam – ich muss wohl zwölf oder so gewesen sein –, war ich schon nicht mehr bei meinem Volk, ich war beim Dichter McSweny in Grand Rapids, während Thomas McNulty und John Cole in Kriegsdingen unterwegs waren. Der Dichter McSweny war dunkelhäutig, genau wie Rosalee, und ein berühmter Türsteher am dortigen örtlichen Theater. Als ich meinen Mond bekam, glaubte ich, ich müsse sterben, und er glaubte es auch. Damals war er an die neunzig Jahre alt, hätte es also besser wissen sollen. Aber wir zwei da in seinem Haus waren unwissende Geschöpfe. Er rannte zu Doc Ganley, der ein paar Türen weiter wohnte, und der Doc kam mit ihm zurückgerannt, und als er sah, wie’s um mich bestellt war, musste er lachen. Der Dichter McSweny wurde über die Tatsachen des Lebens aufgeklärt und musste eines seiner alten Bettlaken zu Binden schneiden. Das war’s aber auch schon. Kein Tanz, kein Gesang und keine Frauen, die wussten, was zu tun war.
Jas Jonski war jung wie alle anderen jungen Männer, die je gelebt haben, ob weiß, ob schwarz, ob rot. Damals wusste ich nicht, ob er es war, der Tennyson Bouguereau in der Stadt gesehen hatte. Denkbar wäre es. Unser Pferdewagen wurde halb umgestürzt im Wald aufgefunden, und die arme, noch angeschirrte Jakes, unsere beste Stute, zitterte traurig. Wenn ich mich recht erinnere, war die Stelle nicht allzu weit vom Haus des Anwalts Briscoe entfernt, und so führten einige Männer Pferd und Wagen dorthin, und ich denke, sie waren der Meinung, ihrer Pflicht damit Genüge getan zu haben. Dem armen Schwarzen, der bewusstlos auf der Straße lag, schenkten sie nicht die geringste Beachtung.
Falls Sie sich je ein Bild des Leidens gewünscht haben sollten – ein reisender Fotograf hätte eine Daguerreotypie von Rosalee Bouguereaus Gesicht anfertigen können, als sie die Nachricht erhielt. Ich stürzte auf sie zu und zog sie an mich. Sie weinte ohne Unterlass.
»Schon gut, Rosalee, sei still«, sagte Lige Magan, »wenigstens isser nich’ tot.«
Später in jener Nacht kamen John Cole und Lige Magan mit Rosalees Bruder zurück. Nachdem sie von den Brüdern Sugrue die schlimme Nachricht vernommen hatten, waren sie auf Maultieren losgeritten, und jetzt kamen sie mit denselben Maultieren zurück, hinten an den Wagen gebunden, und die große Blechlampe warf auf alles ihr Licht. Jakes, die Stute, zitterte noch immer. Ein Pferd ist ein kundiges Geschöpf. Und auf der Ladefläche des Wagens lag Tennyson Bouguereaus armer, zerschundener Körper. Sein hübsches Gesicht war voller Schrammen, blutig und geschwollen, und seine Kleider, die er immer so in Ordnung hielt, glichen den Lumpen eines Bettlers.
Deshalb wollte ich ein paar Dinge über Tennyson sagen. Tennyson Bouguereau war – zumindest bei uns – berühmt für seinen geschickten Umgang mit dem Gewehr. Lige Magan erzählte uns oft, wie Tennyson einmal einen Grashalm aufgerichtet hatte, fünfzehn Meter zurückgegangen war, sich dann umgedreht und den Grashalm mit seinem Spencer-Karabiner in zwei Teile zerschossen hatte. Lige Magan wusste diese Fertigkeit zu würdigen, war er doch in der Armee selber Scharfschütze gewesen, wenn auch kein so scharfer wie Tennyson. Tennyson Bouguereau hatte eine natürliche, gottgegebene Befähigung. Als ehemaliger Sklave durfte er natürlich nur bei sich zu Hause Waffen tragen. Für kurze Zeit hatte es für diese Sklaven etwas besser ausgesehen. Auf Farmen, für die sie nicht mehr arbeiten wollten, hatten sie ihre Werkzeuge niedergelegt. Sie hatten das Stimmrecht erhalten, nun ja, zumindest die Männer. Sie konnten einem Weißen in die Augen sehen und offen mit ihm reden. Für kurze Zeit. Jetzt schwang das Pendel wieder zurück. Wenn die schwarzen Landarbeiter nicht blieben, hatten die Farmer niemanden, der ihre Felder bewirtschaftete. Sie drehten durch. Von großen Gewaltausbrüchen war die Rede, Böses wurde gesagt und getan. Tennyson Bouguereau war ein Fürst von einem Mann. Wenn jemand Hilfe gebraucht oder ihn um Hilfe gebeten hätte, er hätte jedem geholfen.
Er konnte nicht lesen oder schreiben, aber auf Rosalees hübschem Papier konnte er dein Gesicht zeichnen. Er zeichnete gern die Rotkehlchen im Hof, und wie eine Nachtschwalbe aussah, wusste ich nur deshalb, weil Tennyson eine eingefangen hatte – auf dem Papier.
Die Männer, die ihn zusammenschlugen, interessierte das alles nicht. Die meisten Weißen sehen nur Sklaven und Indianer. Den einzelnen Menschen nehmen sie nicht wahr. Dass jeder von ihnen ein Kaiser ist für die, die ihn lieben.
An diesem Abend mussten wir Reste essen. Rosalee säuberte ihren Bruder von all dem Blut und ließ sich von Lige Magan dabei helfen, Tennyson in das schmale Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses zu bugsieren, in dem er schlief. Dort sollte er genesen. Ich sah, wie sie ihm das Haar mit etwas von der Pomade einrieb, die John Cole gehörte. Tennyson gab kein Wort von sich. Er war all seiner Worte beraubt. Sie flehte ihn an, ihr zu verraten, wer die Tat begangen hatte, doch er starrte sie nur an wie ein verängstigtes Kind. Wo mit einem Werkzeug auf seinen Schädel eingeschlagen worden war, sah ich einen langgestreckten Bluterguss, dunkel wie Erde, die gerade umgepflügt worden ist. Er wurde immer dunkler. Rosalee trug mir auf, die Blumenköpfchen der Hyazinthen zu zerdrücken, die sie im Frühling des Vorjahres gesammelt und getrocknet hatte und die sie mir immer verabreichte, wenn ich meinen Mond bekam. Etwas davon gab sie in das Wasser, mit dem sie Tennyson wusch, so dass er ein wenig nach Frühling roch. Sie versuchte, die Gewalt von ihm abzuwaschen.
Jetzt war Rosalee die Traurige und ich die Suppenzubereiterin. Meine Fürsorge für Rosalee übte einen gewissen Reiz auf mich aus. Die Traurigkeit eines anderen Menschen kann die eigene ein wenig lindern. Habe ich festgestellt. Doch so seltsam ist das gar nicht, denn die Welt ist ohnehin mysteriös.
Sie war bestürzt, ihren Bruder so malträtiert zu sehen. Es weckte Erinnerungen an die Schrecknisse früherer Zeiten, als sie nicht wussten, ob sie für immer in Knechtschaft gefangen oder frei sein würden. Trotz allem mussten sie bittere Wahrheiten schmecken, das war gewiss.
Ich komme aus der traurigsten Geschichte, die es auf Erden je gegeben hat. Ich bin eine der Letzten, die noch weiß, was mir genommen wurde und wie es war, bevor es mir genommen wurde. Das Gewicht dieser Trauer hat schon so manchen Kopf zermalmt. Jemals einen betrunkenen Indianer gesehen, jemals einen Indianer in Lumpen gesehen? Das passiert, wenn ein König von Trauer überwältigt wird. Aber es ist nicht nur das. Wir glaubten, alles, was wir waren, sei Reichtum und Wunder. Wir wussten, dass dem so war. Wie sonst war es möglich, als Kind so glücklich gewesen zu sein? Eine Welt, die ein guter Ort ist für ein Kind, ist eine gute Welt. Es war ja nicht nur so, dass diese Welt beseitigt, sondern dass so oft der Befehl ergangen war: Tötet sie alle. Fragen Sie Thomas McNulty, er hatte ihn oft genug gehört. War losgezogen und hatte gehorcht. John Cole auch. Dieser wilde Bursche Starling Carlton. Sogar Lige Magan. Es kam nicht drauf an, ob’s ein Säugling war, ein Mädchen oder eine Mutter.
Allein die Berührung eines weißen Mannes, schon sein Nahen war der Herold des Todes.
Wir legten großen Wert auf jeden Einzelnen von uns. Aber der Wert, den die Weißen uns beimaßen, war nicht der gleiche. Wir waren ein Nichts – wenn man uns tötete, tötete man ein Nichts, und es bedeutete nichts. Es war kein Verbrechen, einen Indianer zu töten, weil ein Indianer nichts Besonderes war.
Das alles weiß ich, deswegen schreibe ich es auf.
Inzwischen war Tennyson Bouguereau jedoch eine Art Bürger, insofern war es vielleicht doch ein Verbrechen, ihn zusammenzuschlagen. Hatten sie den ganzen