Tausend Monde. Sebastian Barry
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Manchmal waren diese Dokumente gesprächig, manchmal stumm wie Schnee. Es gab Listen von all den schwarzen Seelen, die im Negro Sales Office des Henry County gekauft und verkauft worden waren; das war das Werk des Vaters von Anwalt Briscoe. Da war die buchhalterische Geschichte von Mr Hicks’ Laden und von vier weiteren Trockenwarenhandlungen, siebzig Jahre Versorgung mit Lebensmitteln, Jahre und Aberjahre Regierungsverträge zur Belieferung der inzwischen verschwundenen Indianer – und fünfzig alte, vergilbte Seiten Buchführung für die Milizen, die dabei geholfen hatten, die Chickasaw und die Cherokee aus Tennessee zu vertreiben.
Es habe sich als unmöglich erwiesen, uns zu zivilisieren, hieß es in den Dokumenten. So etwas zu lesen brachte mich zum Weinen. Es gab nichts Zivilisierteres als die Brust meiner Mutter und mich, die sich dort anschmiegte.
Aber Zahlen weinen nicht, und Zahlen wurden für alles und jedes gebraucht.
Der Anwalt Briscoe war sehr darauf bedacht, dass ich die Straße genau im Auge behielt. Es sollte unter anderem dazu dienen, dass er am Leben blieb, denn zu dieser Zeit, nach dem Krieg, waren Fremde in Tennessee kein vertrauenswürdiges Gut. Und für einen Mann, der im Westen des Staates lebte, klangen die Ansichten des Anwalts Briscoe in Wahrheit viel zu sehr nach East Tennessee. In East Tennessee lebten viele, die sich nicht hatten abspalten wollen. Oft waren ganze Horden von Soldaten unterwegs, aber auch geheimnisvolle, düstere Gestalten, die vielleicht einmal Soldaten gewesen waren, ihren Krieg jedoch verloren hatten. Auf dieser Straße herrschte in der Dämmerung mitunter eine erschreckende Betriebsamkeit. Und das, obwohl sich der neue Gouverneur für die alten Rebellen stark machte und sie sogar das Stimmrecht zurückerhalten hatten, während sein Vorgänger für die Union eingetreten war und ihnen das Stimmrecht entzogen hatte – oder lag es gar an ebendiesem Tanz der Zeit?
Er selbst saß an einem großen Tisch, der mit den ersten Planwagen nach Tennessee gekommen war. Vor fast hundert Jahren, sagte er, bevor Tennessee überhaupt Tennessee gewesen sei. Sein Urgroßvater war der erste Briscoe hier gewesen. Der Anwalt Briscoe hegte starke Gefühle für Tennessee. Er sprach gern über die gute alte Gründerzeit und verwendete dabei oft einen alten Tennessee-Ausdruck – »zwischen den Bergen und dem Fluss«. Denn dem Anwalt Briscoe zufolge lag Tennessee genau dort: zwischen dem Mississippi und den Appalachen. Das traf ja auch zu. »Zwischen den beiden Flüssen« war ein Ausdruck für West Tennessee, denn das lag zwischen dem Tennessee River und dem Mississippi.
Der Anwalt Briscoe hatte, so konnte man es wohl bezeichnen, große Ideen über die Welt im Allgemeinen. Er begeisterte sich für »aus der Mode gekommene Anliegen«, wie er es nannte. Eines davon muss wohl ich gewesen sein. Er glaubte, vor langer Zeit habe der frühere Präsident Andrew Jackson den Chickasaw großes Unrecht zugefügt, indem er sie ins Indian Country vertrieb. Was Ulysses S. Grant, den jetzigen Präsidenten, betraf, so seufzte er oft über ihn. Der mochte ein guter Soldat gewesen sein, aber war ein guter Soldat auch ein guter Präsident?
Der Anwalt Briscoe war mit einer Frau aus Boston verheiratet und hatte sieben Kinder, seine Frau hatte die Kinder jedoch wieder nach Boston mitgenommen. Dafür hatte er Lana Jane Sugrue, die ihm den Haushalt führte, und ihre beiden Brüder Joe und Virg, die mich damals zur Farm von Lige hinausgefahren hatten. Lana Jane kam aus Louisiana und benutzte Wörter wie couture und coiffure. Sie war sehr klein und trug, weil sie fast keine Haare mehr hatte, drinnen wie draußen einen Hut.
Ich saß an meinem kleinen Tisch und führte die Bücher. Und um sechs Uhr kam John Cole mit dem Pferdewagen und holte mich ab, denn das Haus des Anwalts Briscoe lag am südlichen Ende von Paris, und es bestand keine Notwendigkeit, quer durch die Stadt Spießruten zu laufen. Angeregt durch die Stille der Fahrt, sprach John Cole von Neuengland, wo er geboren war, und von all den Abenteuern, die er in der weiten Welt gemeinsam mit Thomas McNulty bestritten hatte. Manchmal war er recht fröhlich und erzählte mir humorvolle Geschichten, meist aber war John Cole jemand, der nur ernste Dinge von sich gab.
»Das ist das Wichtigste in der Welt«, sagte er. »Wer dir was antut, der hat nicht mehr lange zu leben.«
Die Jahreszeiten gaben die Kulisse zu seinen Worten ab, und wenn es Winter war, hatte er den Mantel fast bis zu den schwarzen Funken seiner Augen zugeknöpft, genau wie ich, aber irgendwie hielt er das Gespräch stets in Gang, selbst an eiskalten Tagen.
Wenn er sich in Thomas McNultys Nähe aufhielt, was er so oft tat, wie er es nur einfädeln konnte, sprach er kaum ein Wort.
Thomas blieb immer ganz er selbst, sogar wenn er sich als meine Mama kleidete. Seine Stimme veränderte sich nicht, eigentlich auch sonst nichts. Nachdem er aus Kansas zurückgekehrt war, zog er nicht mehr so oft Frauenkleider an. Wenn der Anwalt Briscoe ein ’riginal war, dann war auch er eins. Thomas McNulty sagte immer, er komme aus dem Nichts. Das meinte er wörtlich. Alle seine Familienangehörigen waren in Irland gestorben, in weiter Ferne, genau wie meine in Wyoming. Sie waren verhungert, und viele Indianer waren an demselben Leiden zugrunde gegangen. Er sagte, er komme aus dem Nichts, jetzt aber lebe er unter Königen und Königinnen. Es kam ihm nie in den Sinn, dass auch wir ein Nichts waren.
Wenn er von John Cole sprach, hatte er eine bestimmte Art, das Gesicht vorzustrecken, dann bewegte sich sein Kinn auf und ab wie der Kolben einer Maschine. John Cole war bei Thomas McNulty immer gut angeschrieben. Wenn er Dinge über ihn sagte, errötete er. Zwar waren es nur ganz gewöhnliche Dinge, doch sobald er sie äußerte, verfärbten sich seine Wangen.
»Schätze, da müssen wir John Cole fragen«, sagte er, wenn es mal eine Auseinandersetzung gab. Dabei streckte er das Gesicht vor. Das meinte er gar nicht lustig, und doch musste ich immer lachen. Ich bin sicher, dass er mich lachen sah, aber er schenkte mir keine Beachtung. Jedenfalls fragte er nie, was mich denn so belustige. Und hätte er’s getan, hätte ich nicht antworten können.
Mit Thomas McNulty konnte ich immer mühelos über alles reden – bis ich herausfand, wo meine Grenze war.
Vielleicht war auch Rosalee Bouguereau traurig, als das Kleid beiseite gelegt wurde, war sie es doch, die als Königin im Hintergrund sämtliche Arbeitsschritte geleitet und sich zudem die Mühe gemacht hatte, hundert weiße Stoffstücke zurechtzuschneiden, sie zu kleinen Rosen zu drehen und am Ausschnitt anzunähen. Rosalee Bouguereau war, wie gesagt, bis vor kurzem eine echte Sklavin gewesen, doch falls der Gedanke daran sie quälte, ließ sie sich nichts anmerken, sie zeigte nur ihre Begabung für das, was man Glück nennen könnte.
An dem Tag, als ich voller Blutergüsse nach Hause kam, war sie gar nicht glücklich. Tief erschüttert war sie, als sie mich säuberte. Sie musste mir zwischen die Beine greifen. Als Sklavin dürfte sie bei Frauen schon reichlich Verletzungen gesehen haben.
Natürlich mochte man in West Tennessee keine Schwarzen, weder vor noch nach dem Krieg.
»Die mögen’s nich, wenn ’n Schwarzer auf die Füße kommt«, sagte Lige Magan. »Is’ halt das Land der Grauröcke.«
Lige hatte den unbekümmerten Humor des siegreichen Soldaten, dem die Tücken des Sieges aufgegangen sind.
»Im Krieg«, sagte er, »war East Tennessee Lincoln-Land, die haben im Blau der Union gekämpft, genau wie wir – aber dieses West Tennessee? Nichts als Baumwollfelder und Konföderiertenröcke.« Er schüttelte den Kopf über dieses Stück Geschichte, als wäre es verwirrend und verworren, was es ja auch war.
»Schätze, Grant is’ gar nich’ so übel«, sagte Thomas McNulty. »Kein Freund der Grauröcke.«
Ulysses S. Grant war Rosalee Bouguereau herzlich egal, und so wie die Dinge sich entwickelten, hatte sie vielleicht recht damit. Sie wollte nur, dass ihre Pasteten genau so aus dem Backofen kamen, wie sie sich das wünschte, und dass wir uns an den Winterabenden,