Tausend Monde. Sebastian Barry

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Tausend Monde - Sebastian  Barry

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sich fühlten, weil das Einzige von Wert, was sie besaßen, versehrt worden war und sie nicht wussten, was sie dagegen unternehmen sollten. Und dass sie es, wie Lige Magan herausgefunden hatte, vielleicht nicht einmal dann wiedergutmachen konnten, wenn sie gewusst hätten, wie.

      Weiter westlich hätten sie, war der Schuldige erst einmal ausfindig gemacht, einfach angefangen zu schießen.

      Thomas McNulty überlegte, ob es etwas nützen würde, jeden Winkel von Paris nach Vaganten und Vagabunden zu durchkämmen und, wo sie schon einmal dabei wären, vielleicht auch gleich die Landstraßen abzusuchen. John Cole sagte, heutzutage seien auf den Straßen sowieso nichts als Vaganten und Vagabunden unterwegs. Thomas McNulty seufzte und meinte, das seien sie doch viele Male selbst gewesen.

      Immer wieder fragten sie mich: »Hast du gesehen, wer’s getan hat? Ein Fremder? Oder jemand, den du kennst?« Ich antwortete immer nur: »Ich weiß es wirklich nicht.«

      Ich ging zu John Cole und stellte mich neben sein Bein wie ein Hund, der nicht sicher ist, ob er recht oder unrecht getan hat.

      Weil ich dachte, ich müsste es doch wissen, und mich fragte, ob ich es vielleicht nicht doch tat. Ich konnte mich undeutlich erinnern, dass ich mich losgerissen hatte und zur Stadt hinausgetaumelt war. Dann war ich wie ein verletztes Pony umhergestolpert, bis ich zum Haus des Anwalts Briscoe kam. Lana Jane Sugrue, seine Haushälterin, rief ihre beiden Brüder herbei, und die fuhren mich im Buggy des Anwalts Briscoe nach Hause. Vielleicht weinte ich, vielleicht auch nicht. Die Brüder, Joe und Virg, wagten es kaum, mich anzuschauen; ich sah, wie sie einander nervöse Blicke zuwarfen. Ich erinnere mich an die Felder und Brachen, die an mir vorüberflogen, als sie das kleine Pony antrieben, bis es Schaum vor dem Maul hatte. Hinten auf der harten Bank spürte ich jede Unebenheit des Weges. Und dann ließen sie mich, fast ohne ein Wort zu sagen, hinter Liges Haus absteigen.

      Sie setzten mich nicht an der Vordertür ab.

       Drittes Kapitel

      Dass es Jas Jonski war, der mir das Gesicht zerschlug, hätte meine Geschichte sein können. Natürlich hätte es das. Sie war aber nicht in meinem Kopf. Und dort sollten Geschichten angesiedelt sein. Klar wie ein hübscher Bach hoch oben in den Hügeln. Jas Jonski, ein Mann, den ich nicht einmal geküsst hatte. Es war alles zu schwarz, um etwas erkennen zu können. Immer wieder durchlief mich von Kopf bis Fuß dieser kleine Sturm des Zitterns. Jemand war in mich eingedrungen, denn unten herum bestand ich nur noch aus Lumpen und Fetzen. Ich hätte ihnen sagen können, dass ich ihn für den Täter hielt, aber ich weiß nicht, welche zehn Pferde sie dann noch davon abgebracht hätten, ihn zu töten. Es hätte keine Rolle gespielt, was John Cole zu diesem Zeitpunkt war, ob Engel oder Indianer, es hätte ihn nicht aufgehalten. Das Feuer der Rache in sich, wäre er in die Stadt gefahren, und nichts hätte Jas Jonski retten können.

      Ich wollte nicht, dass John Cole aufgeknüpft wird. Und ich hatte die Geschichte ja auch nicht genau im Kopf.

      In Amerika brauchtest du nur so auszusehen, als hättest du etwas Unrechtes getan – warst du arm, hingst du schnell am nächsten Baum.

      Wie auch immer, vielleicht wollte ich die Rechnung ja auf eigene Kosten begleichen. Ich weiß noch, dass ich diesen Gedanken durchaus hatte. Es war der Mut der Verzweiflung. Ich weiß noch, wie ich dachte: Es gibt eine Zeit, in der dein Vater und deine Mutter deine Kämpfe für dich austragen, und es gibt eine Zeit, in der du selber kämpfen musst, und ich nahm an, dass diese Zeit jetzt gekommen war.

      Ich will sagen, dass ich mich sehr schämte. Ich schämte mich dafür, dass Rosalee mich säubern musste. Ich war geradezu starr vor Scham. Ich konnte nicht darüber reden, nicht einmal zu mir selbst. Und so dachte ich: Statt zu reden, werde ich die Sache selber in die Hand nehmen. Nun, ich glaube, das war ziemlich mutig. Eine Zeit lang, einen Moment lang taugen derartige Gedanken. Aber wie setzt du sie um?

      Könnte sein, dass ich von Dingen rede, die sich 1873 oder 1874 im Henry County, Tennessee, zugetragen haben, doch was Daten betrifft, war ich noch nie verlässlich. Und falls sie sich zugetragen haben, gab es zu der Zeit keine wahrheitsgetreue Darstellung. Es gab nackte Tatsachen und eine Leiche, und dann gab es die wahren Ereignisse, die niemand kannte. Dass Jas Jonski getötet wurde, war die nackte Tatsache. Auch andere wurden getötet, doch deren Mörder waren bekannt. Wer hatte ihn getötet? Eine Weile war das die große Frage in der Stadt. Länger, als Sie denken. Vielleicht reden sie heute noch darüber, dort unten in Paris, Tennessee. Wenn ich behaupte, dass im Folgenden die wahren Ereignisse geschildert werden, sollten Sie bedenken, dass sie in großem zeitlichem Abstand zum Geschehen geschildert werden. Und dass es niemanden mehr gibt, der meiner Schilderung zustimmen oder widersprechen könnte. Einigen Dingen würde ich am liebsten selbst widersprechen, denn ich sage mir: Kann es wirklich so gewesen sein, und habe ich das wirklich getan? Aber durch den Morast der Erinnerungen führt meist nur ein Weg.

      Vom Anwalt Briscoe und vielleicht noch ein paar anderen abgesehen, war ich in den Augen der Stadtbewohner kein menschliches Wesen, sondern eine Wilde. Näher an einer Wölfin als an einer Frau. Meine Mutter wurde getötet, wie ein Schäfer einen Wolf töten würde. Auch das ist eine Tatsache. Ich denke, es gab zwei Tatsachen. Ich war geringer als die Geringsten unter ihnen. Ich war geringer als die Huren im Hurenhaus, höchstens, dass ich in ihren Augen eine im Werden begriffene Hure war. Ich war geringer als die schwarzen Fliegen, die einen im Sommer verfolgten. Geringer als die alte Scheiße, die hinter die Häuser geschüttet wurde.

      Etwas so Geringes, dass man mit ihm tun konnte, was man wollte: es herumstoßen, verprügeln, erschießen, häuten.

      Nur weil John Cole mich als etwas so Goldenes großzog, dass, wie er sagte, die Sonne selber eifersüchtig auf mich war, bedeutete das nicht, dass sonst irgendjemand in der großen, weiten Welt genauso dachte.

      Der Anwalt Briscoe war das, was Thomas McNulty ein »Original« nannte. Wenn ich in meinem Kopf Thomas McNultys Stimme höre, müsste man das Wort eher so schreiben: ’riginal. Lige Magan sagte, in den weiten Landen Amerikas gebe es nicht seinesgleichen. Keinen, von dem man wüsste.

      »’türlich«, sagte Lige Magan, »bin ich nich’ jedem in Amerika begegnet.«

      Der Anwalt Briscoe – ich habe nie gehört, dass man ihn anders gerufen hätte – war etwa sechzig Jahre alt, als ich bei ihm zu arbeiten begann. Sein Schopf war noch drahtig, und er bändigte ihn mit Haaröl aus einem großen Glas. Dieses Haaröl! Es stank wie verfaulter Kohl. Und immer staunte ich darüber, wie sauber seine Hände waren. Natürlich hatte er mit Feldarbeit nichts zu schaffen. Aber er besaß auch kleine Bimssteine, mit denen er seine Fingernägel abrundete, und jedes Fitzelchen Schmutz entfernte er mit einem silbernen Dorn.

      Er sei zu alt gewesen, um im Krieg zu kämpfen, aber vermutlich sei das eine gute Sache, sagte er, denn wie vielen Leuten in Tennessee wurde ihm ganz schwindelig im Kopf, wenn es darum ging, auf welche Seite er sich schlagen sollte. Vielleicht stand er auf der Seite des Lebens.

      In seinem Haus war ein Büro, das ganz mit schimmerndem Holz ausgelegt war, so dass man meinen konnte, es stehe Wasser auf dem Boden, so sehr schien er zu schwappen und zu zittern. Er setzte mich an einen kleinen Tisch in der Ecke, an dem ich rechnen sollte. Neben meinem Platz war ein Fenster, das auf die Hauptstraße hinausging. Ich sollte darauf achten, wer da alles kam und ging, und manchmal bat er mich, die Namen aufzuschreiben, falls ich sie wusste. Viele der Passanten waren tagein, tagaus dieselben. Da gab es zum Beispiel den Fuhrmann Felix Potter, dessen Name auf seinem Pferdewagen prangte. Wenn es ein neues Gesicht war, bat ich den Anwalt Briscoe, an mein kleines Fenster zu eilen und selbst hinauszuspähen. Dann musste ich der Wampe Platz machen, die er vor sich hertrug. Auf diese Weise lernte ich fast jeden in Paris kennen, der in der Hauptstraße zu tun hatte. Wenn dann jemand kam, um die Dienste des Anwalts Briscoe in Anspruch

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