Kalte Nacht. Anne Nordby
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Pål nimmt die Dose mit ins Wohnzimmer, setzt sich auf die zerschlissene Ledercouch und schaltet den alten Röhrenfernseher an. Ein Erbstück von seiner Mutter, wie das ganze Haus. Auf TV4 wird ein amerikanischer Actionfilm mit Bruce Willis gesendet, den er laufen lässt, während er in Ruhe sein Bier schlürft und die Füße hochlegt. Als sein Magen knurrt, zieht er eine Tüte Dillchips heran, die vom Vorabend auf dem Couchtisch liegt, und stopft sich eine Handvoll davon in den Mund. Das war der einzige Vorteil an Frigga: Sie hatte bereits das Essen gekocht, wenn er abends nach Hause kam. Nun muss er sich um alles selber kümmern. Dabei ist die Arbeit im Wald schon anstrengend genug. Grimmig malmt er auf den Chips herum und schluckt den nach Fett und Salz schmeckenden Brei. Verdammt! Warum müssen sich die Weiber immer so anstellen? Er ist mächtig stolz gewesen, als er vor ein paar Monaten einen Job als Waldarbeiter beim Großgrundbesitzer Dahlberg bekommen hat. Und was hat Frigga dazu gesagt? »Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich und sitzt abends nur noch vor dem Fernseher.« Blöde Kuh! Irgendjemand muss doch Geld verdienen. Gut, dass sie abgehauen ist, sonst hätte er sie vor die Tür gesetzt, mitsamt diesem beknackten Köter!
Pål stopft sich eine weitere Handvoll Chips in den Mund und leert die Bierdose. Jetzt muss er auch noch aufstehen und sich eine neue holen. Mit einem Grunzen stemmt er sich vom Sofa hoch. Auf dem Fernsehbildschirm kriecht Bruce gerade durch einen Lüftungsschacht und schimpft darüber, wie sehr er Weihnachten hasst.
»Du sagst es, Bruce«, murmelt Pål und schlurft in die Küche. Plötzlich knallt es draußen zweimal laut.
»Verdammte Besoffene!« Fluchend rennt Pål durch den Flur und reißt die Haustür auf.
Kühle Dämmerung und Grillenzirpen empfangen ihn. Sonst herrscht Stille. Pål wohnt am Ortsende von Hultsjö, direkt an der Hauptstraße 28, die von Karlskrona nach Emmaboda führt. Die Grenze zu Småland ist nicht weit. Allerdings liegt hier in Blekinge, der kleinsten Provinz Schwedens, irgendwie alles an der Grenze zu irgendetwas … oder am Meer.
Pål lauscht in den Abend hinaus, doch es ist nichts mehr zu hören. Als er den Kopf reckt, kann er auf der Hauptstraße das unaufhörliche Blinken eines orangefarbenen Lichtes ausmachen. Kein gutes Zeichen. Verärgert beißt er die Kiefer aufeinander und geht auf Socken über den schmalen Steinplattenweg vor seinem Haus zur Straße. Wenn das wieder so ein besoffener Schwachkopf ist, der ihm den Feierabend versaut, kann der was erleben.
Als er das Gartentor öffnet, entdeckt er ein Auto. In der Kurve, in der schon viele Bekloppte ihre Karren zersägt haben, hängt es im Straßengraben. Es ist gegen einen Baum gekracht. Keiner der Insassen rührt sich. Pål fällt das Nummernschild ins Auge, und er stößt einen weiteren Fluch aus. Scheiße, diesmal sind es keine Schweden, sondern Deutsche.
Atemlos rennt er über die Straße auf den roten Volvo mit dem Elchaufkleber am Heck zu. Der Wagen sieht übel aus. Hat erst den Straßenwegweiser mitgenommen und ist anschließend gegen eine Birke geprallt. Der Stamm hat die Motorhaube regelrecht gespalten und zu einem unansehnlichen Faltenwurf aufgetürmt. Die Frontscheibe ist zersplittert und blind, der Motor muss bei dem Aufprall ausgegangen sein. Irgendwo knackt heißes Metall.
»Hallo?«, ruft Pål noch im Laufen. »Hallo?!«
Das Fenster auf der Fahrerseite ist geborsten. Pål beugt sich vor und blickt ins Innere, stolpert nach hinten. »Jävla skit! Lieber Gott im Himmel.«
Auf dem Fahrersitz befindet sich ein Mann. Er ist in sich zusammengesunken, als halte er ein Nickerchen. Doch sein Schädel ist an der Stirn nach innen gedrückt wie bei einem Plastikball. Der Airbag muss versagt haben und der Fahrer ungebremst mit dem Kopf gegen das Lenkrad oder die Frontscheibe geknallt sein. Zum Teufel, warum können sich die Leute nicht anschnallen? Neben dem Fahrer entdeckt Pål einen weiteren Insassen. Ein verrenktes Bündel, das halb in den Fußraum gerutscht ist. Ein dunkelhaariges Mädchen, nicht älter als neun oder zehn. Es rührt sich nicht. Pål späht auf den Rücksitz. Der ist leer, dafür liegt etwas Großes längs im Fußraum hinter den beiden Vordersitzen. Es ist in eine Decke gewickelt. Als er genauer hinsieht, erkennt er einen Körper. Oh Gott! Noch ein Kind?
Pål korrigiert seine Annahme. Es ist eher eine Jugendliche. Die blonden Haare sind strähnig, das Gesicht aschfahl. Die toten Augen starren Pål an, als sei er an allem schuld.
Benzingeruch steigt ihm in die Nase. Scheiße! Eine Lache breitet sich im Gras unter dem Wagen aus. Erst jetzt bemerkt er, dass er sich mit Blut beschmiert hat. Es klebt an seinen Händen und vorn an seinem Hemd. Pål unterdrückt ein Würgen. Glassplitter bohren sich durch die Socken in seine Fußsohlen. Trotzdem, er muss etwas tun. Widerwillig beugt er sich in den Wagen und hält sein Ohr an den Mund des Fahrers. Der Mann atmet nicht. Plötzlich hört Pål ein Stöhnen und stößt sich vor Schreck den Hinterkopf am Holm. Er sieht, wie ein Zucken durch den Körper im Fußraum auf der Beifahrerseite geht, und zieht sich hastig zurück.
Verdammt, die Kleine da lebt!
Hilflosigkeit und Verzweiflung wallen in Pål auf. Tränen treten aus seinen Augenwinkeln. Was soll er bloß tun? Was, wenn er etwas falsch macht? Das ist doch ein Kind. Oh Gott! Warum ist er ganz allein? Kein einziges beschissenes Auto fährt vorbei. Niemand, der ihm helfen könnte. Mit zitternden Fingern tastet Pål nach seinem Mobiltelefon, zieht es umständlich aus der Hosentasche heraus und wählt den Notruf.
Im selben Moment taucht endlich ein Auto auf und hält neben ihm mit quietschenden Reifen, während Rock-’n’-Roll-Musik aus dem Fenster schallt. »Jailhouse Rock« von Elvis. Ausgerechnet.
Die Tür wird geöffnet, und ein junger Mann springt aus dem Wagen. Mit einem unwirklichen Hall dröhnt die Musik aus dem Autoradio durch die abendliche Luft und verstärkt in Pål das Gefühl von Trostlosigkeit und Kummer. Warum ist er nur rausgegangen?
»Hej, um Gottes willen, was ist passiert? Brauchst du einen Arzt?« Der junge Mann fasst Pål an der Schulter. Sein Blick fällt auf das Blut an seinen Händen und die zerschnittenen Socken an seinen Füßen.
In diesem Augenblick dringt ein heiserer Hilferuf aus dem verunglückten Volvo.
3
Polizeiassistentin Maja Lövgren beobachtet, wie eine Rolltrage mit dem schwerverletzten Mädchen in den Krankenwagen geschoben wird. Die Kleine trägt eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht und ist auf einem Spineboard fixiert. Die Wunde an ihrer Schläfe wurde mit einem Druckverband versorgt. Für die anderen beiden Unfallopfer kam jede Hilfe zu spät. Der Fahrer, vermutlich der Vater der Mädchen, hat ein schweres Schädelhirntrauma erlitten. Er muss sofort tot gewesen sein. Auch das ältere Mädchen konnte nicht reanimiert werden. Es hat eingewickelt in eine Decke auf dem Rücksitz gelegen, als der Wagen von der Straße abgekommen und gegen den Baum gekracht ist. Alle drei waren nicht angeschnallt, und der Volvo fuhr vermutlich mit deutlich höherer Geschwindigkeit als den erlaubten 80 Kilometer pro Stunde.
Maja blickt auf die Brieftasche des Fahrers, die in einem Plastikbeutel steckt. Der Ausweis liegt obenauf. Sie liest noch einmal den Namen: Jochen Nowak, geboren in Hamburg. Die Mädchen wurden bisher nicht identifiziert. Zudem ist unklar, weshalb die drei überhaupt in dieser Gegend unterwegs waren. Haben sie in der Nähe in einem der