Jedermannfluch. Manfred Baumann
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Gut 200 Besucher und Besucherinnen hatten sich an diesem sonnigen Spätnachmittag auf dem prächtigen Gelände vor dem schlossartigen stattlichen Gebäude des Gwandhauses in Salzburg-Morzg eingefunden. Sie alle wollten das Spektakel der Theatertruppe erleben. Darunter auch viele Kinder. Im hinteren Drittel des Zuschauerbereichs war eine junge Frau auszumachen. Sie war erst knapp vor Beginn der Darbietung gekommen. Ihre Präsenz war auf gewisse Weise attraktiv. Einige der Umstehenden warfen immer wieder einen schnellen Blick in ihre Richtung. So als wollten sie abchecken, woher ihnen die reizvolle Erscheinung bekannt sein könnte. Selbstverständlich nahm Isolde Laudess das neugierige Verhalten der Umstehenden wahr. Ab und zu quittierte sie einen der Blicke mit einem Lächeln. Gleichzeitig versuchte sie, sich auf die Theaterszenen zu konzentrieren. Die quirlige Ariana in der Hauptrolle der Jederfrau machte sich gar nicht so schlecht, wie sie immer wieder feststellen musste. Weitaus besser jedenfalls als Isolde Laudess es erwartet hatte. Gut, in manchen Momenten war Arianas Spiel eher wenig überzeugend, kam viel zu übertrieben zur Geltung. Das gekünstelte Lachen erinnerte Isolde bisweilen eher an eine aufgebrachte Ziege als an die Erscheinung einer schwerreichen Powerfrau der besseren Gesellschaft. Aber vor allem die Dialoge mit der arroganten Gestalt der Tödin bekam Ariana hinreichend witzig hin. Das merkte man auch an den Reaktionen der Zuseher. Es wurde viel gelacht, immer wieder auch herzlich applaudiert. Natürlich hätte sie selbst die Szenen weitaus spektakulärer über die Bühne gebracht. Nicht nur in der Begegnung mit der Tödin, sie hätte den gesamten Auftritt von Anfang an eindrucksvoller hinbekommen. Das stand für Isolde unzweifelhaft fest. Aber sie war dennoch immer wieder vom Spiel der etwas pummeligen, aber durchaus erfrischenden Ariana angetan. Zweimal ertappte Isolde sich sogar bei einem zustimmenden Lachen. Ursprünglich hatte sie den Besuch des Straßentheaters schon viel früher ins Auge gefasst. Aber das wäre sich mit ihren eigenen Terminen bisher nicht ausgegangen. Zum Glück hatte das Spektakel rund um den Theaterkarren heute schon um 16 Uhr begonnen. So passte es ideal in Isoldes Zeitplan.
»Ei Jederfrau, ist so fröhlich dein Mut?«
»Spar dir das hochgestochene Gequatsche, Tödin.« Ariana schwenkte auf der Bühne des Theaterkarrens eine Champagnerflasche. »Lass uns darauf saufen, dass der Aufsichtsrat keinen blassen Schimmer davon hat, was wir geschäftlich so treiben.«
Sie gab die übersprudelnde Flasche ihrer Mitspielerin weiter. Die Tödin nahm einen kräftigen Schluck, dann rief sie:
»Aufsichtsrat, winke, winke.
So viel Kohle, pinke, pinke!
Drum ist klar, ich vertrau
jeden Tag auf Jeeeedeeerfrau!«
Wieder grölte ein Teil der Besucher ausgelassen mit.
Die Stimmung war ausgezeichnet, wie Isolde feststellen musste. Und das hielt an.
Der Schlussapplaus gebärdete sich enthusiastisch. Isolde beteiligte sich zwar nicht am ausgelassenen Jubel, aber sie klatschte immerhin mit. Ein wenig zumindest.
»Isolde!« Der Ruf ertönte hinter ihrem Rücken. Sie hatte gewartet, bis etwa ein Drittel der Besucher den Platz geräumt hatte. Nun war sie bereits in Richtung Morzger Straße unterwegs.
»Isolde!«
Langsam wandte sie sich um. Der junge Mann trug noch sein Auftrittskostüm, mit dem er sich zu Beginn des Spektakels den Zuschauern präsentiert hatte.
»Hi, Cyrano.«
Er hatte das Eröffnungslied auf der Laute gar nicht so schlecht hinbekommen, wie Isolde festgestellt hatte. Der Heraneilende pflanzte sich breitbeinig vor ihr auf. Alles an ihm wirkte abweisend. »Wie kannst ausgerechnet du es wagen, hierher zu kommen? Schaust dir unsere Vorstellung an, als sei nichts gewesen.«
Sie musterte ihn mit kaltem Blick. Dann krähte sie kurz auf, drehte sich um und stolzierte davon.
»Eine wie du hat hier nichts verloren.« Auch wenn ihm klar war, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, zischte er ihr verächtlich hinterher. »Lass dich ja nie wieder in der Nähe unseres Theaterwagens blicken!«
Die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte 17.22 Uhr. Langsam lenkte Isolde ihre Schritte zurück in Richtung Stadt. Von da an hatte sie noch genau acht Stunden und 19 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht.
2. Szene, vier Monate davor
Daß ich mir wahrlich machen mag
so heut wie morgen fröhliche Tag.
Das Kribbeln in seinem Körper wurde stärker. Auch seine Hände begannen zu schwitzen. Er hielt die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Das Notebook hatte er vor wenigen Minuten auf seinem vollgeräumten Schreibtisch platziert. Die herunterzählenden Ziffern schimmerten grell, pulsierten vor einem schreiend roten Hintergrund. Er hatte sich vor zwei Tagen erstmals auf dieser Seite eingeloggt. Schon damals war der Countdown gelaufen. Dazwischen hatte er sicher an die zehn Mal kontrolliert, ob sein Zugang zu dieser geheimen Seite nach wie vor passte. Ignaz hatte ihm zwar mehrmals versichert, dass er ihm die richtige Kombination gegeben hatte und dass die Codes keinesfalls geändert würden. Dennoch war er auf Nummer sicher gegangen, hatte es mehrmals überprüft. Seine Kehle brannte. Er schluckte. Der Hals fühlte sich trocken an.
03.29, 03.28, 03.27 … Er sprang vom Stuhl auf. Der Blick zum Bildschirm machte klar, dass ihm noch genug Zeit blieb, um sich eine Cola aus der Küche zu holen. Er setzte sich in Bewegung. Er hatte genau elf Sekunden gebraucht, wie er feststellte, als er mit Flasche und Glas zurückkehrte. 03.15, 03.14, 03.13. Es war ihm immer noch nicht klar, wie sie das Spektakel umsetzen würden. Ignaz hatte auch keine genauen Daten zum investierten Aufwand gewusst. »Aber ich rechne schon damit, dass rund 10.000 User aus verschiedenen Ländern Zugang zur Race-Seite erhalten«, hatte er mehrmals betont. Yannick hatte die Zahlen überschlagen. Wenn die Vermutung seines Kumpels stimmte, kam bei der geforderten Teilnahmegebühr von 25 Euro rund eine Viertelmillion Euro zusammen. Daraufhin hatte er, ohne zu zögern, den Spieleinsatz beglichen und seinen Tipp abgegeben. Sechs Fahrer waren insgesamt im Rennen. Auf den Sieger der Rennstrecke warteten 60.000 Euro. Gut, es gab natürlich einige Kosten für den betriebenen Aufwand. Aber die würden vermutlich nicht allzu hoch, wie Yannick einschätzte. Immerhin blieb genug über, dass man als Mitspieler übers Internet ordentlich abräumen konnte. Sieben mal 10.000 Euro würde man am Schluss unten jenen verlosen, die auf den richtigen Sieger getippt hatten. Yannick hatte natürlich auf Ignaz gesetzt. Was anderes kam gar nicht in Frage. 01.36, 01.34, 01.33. War die Anzeige plötzlich größer? Waren die pulsierenden Ziffern in den vergangenen Sekunden angewachsen? Er stürzte rasch den Rest der Cola hinunter. Fast wäre ihm dabei das Glas entglitten, so sehr schwitzte er inzwischen. Nervös schrammte er sich mit den nassen Handflächen über die Oberschenkel. Der Stoff der Jeans fühlte sich rau an. Er hatte die Hose schon mehr als drei Jahre. Er zog sie fast jeden Tag an. Wann hatte er sie zuletzt gewaschen? Vor drei Monaten? Wenn er tatsächlich bei diesem verrückten Wettspiel gewinnen sollte, könnte er sich Hunderte neue Jeans kaufen. Oder ein paar der ausgefallenen schrägen Designeranzüge, die er kürzlich gesehen hatte. 00.11, 00.10, 00.09, 00.08 … Er begann zu keuchen. Erneut fegte er mit den Händen über den rauen Stoff der schmutzigen Jeans. Seine Augen starrten auf den Bildschirm. 00.03, 00.02, 00.01. ZERO. Statt der Null als Ziffer flackerten feiste grellgrüne Buchstaben auf. ZERO. Die Schrift zerstob, schien zu explodieren. Schon folgte das nächste Wort. WELCOME. Auch diese flirrende Schrift löste sich spektakulär auf. Gleich darauf war ein Realbild zu erkennen. Yannick sah eine schwach erleuchtete Fläche. Es mochte sich dabei um eine Art großer Parkplatz handeln oder etwas Ähnliches. Ein Insert wurde sichtbar. VIENNA. »Wow!«, entfuhr es ihm. »Das ist ja irre.« Die starteten den ersten Teil des Rennens tatsächlich in Wien. Wo die drei Rennabschnitte tatsächlich stattfinden würden, hatte