Die Unwerten. Volker Dützer
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Josef: polnischer Zwangsarbeiter
Rudolf Klee: Brendels Mentor, alter Pfarrer
Antonius Hilfrich *: Bischof von Limburg
Clemens August : Bischof von Münster
Graf von Galen *
Adolf Wahlmann *: Leitender Oberarzt der Anstalt Hadamar 1942–45
Irmgard Huber *: Oberschwester der Anstalt Hadamar
Hans Simonek: verwundeter Obergefreiter
Karl und Hildegard Simonek: seine Großeltern
Kalle: Ruths Mann fürs Grobe, ihr Joschi
Ernst Weber: Kiesgrubenbesitzer
Willi Wetzel: todkranker Tagelöhner
Gottfried Petzold: Kneipenwirt
Scott Young: Lieutenant der US Air Force
Rolf Heyrich: Bürgermeister, SS-Oberscharführer
1
Das Notizbuch mit dem speckigen roten Einband landete klatschend auf dem Schreibpult. Die meisten Schüler versuchten, ihre Anspannung zu verbergen, aber es gelang den wenigsten. Hannah zuckte zusammen, als hätte Pilz sie geohrfeigt.
»Heil Hitler«, brüllte er.
Die Klasse brüllte zurück. Die Heranwachsenden machten sich einen Spaß daraus, die heisere Stimme des Mathematiklehrers zu übertönen. Pilz war ein untersetzter Zwerg, kaum größer als Hannah mit ihren vierzehn Jahren, und er war sich seiner mickrigen Erscheinung nur allzu bewusst. Darum bemühte er sich, das fehlende Volumen seiner Stimme auszugleichen, indem er auf den Zehenspitzen wippte und seine Tonlage erhöhte. Heraus kam ein Fiepen, das dem Quietschen nasser Kreide auf einer Schiefertafel ähnelte.
Pilz reckte das Kinn vor, presste die Lippen zusammen und ließ seine Blicke über die Reihen wandern. Manchmal griff er sich einen Schüler heraus, um ihn vor den anderen lächerlich zu machen, bevor der eigentliche Unterricht begann. Hannah hatte bisher nicht herausgefunden, ob er nach einem bestimmten Muster vorging oder nur einer Laune folgte.
»Setzen!«
Stuhlbeine scharrten, Stoff raschelte. Der dicke Koschka – er saß links von Hannah auf der Fensterseite – schwitzte in seiner stramm sitzenden HJ-Uniform. Das khakibraune Hemd war ihm aus dem Hosenbund gerutscht, ein rosiges Speckröllchen quoll hervor. Niemand wagte zu atmen, alle starrten auf das rote Notizbuch.
Pilz hatte die Angewohnheit, jeden Freitag Noten zu verteilen, und auch an diesem 22. Dezember 1939, dem letzten Schultag vor Weihnachten, machte er keine Ausnahme. Mit Vorliebe stellte er Aufgaben, die nicht zu lösen waren und nur dem Zweck dienten, den Prüfling bloßzustellen. Anschließend hagelte es Fünfen und Sechsen. Pilz legte eine zackige Kehrtwende hin, marschierte zu seinem Pult und schrieb etwas an die Tafel.
»Was bedeutet diese Zahl?«
Koschka schnellte hoch. »Die Einwohnerzahl von Frankfurt, Scharführer.«
»Richtig, Koschka.« Pilz’ Mundwinkel zuckte, ein zufriedenes Lächeln huschte über sein rotfleckiges Gesicht. »Den Scharführer lassen wir heute mal zu Hause.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, stolzierte durch den Mittelgang und schoss eine seiner berüchtigten Fangfragen ab: »Wie viele Schüler würde es in den Frankfurter Gymnasien geben, wenn die arischen Eltern ihre Kinder in dem gleichen Umfang an eine höhere Schule geschickt hätten wie die Juden?«
Pilz blieb neben Hannahs Bank stehen. Die Schüler hielten die Luft an. Wen würde es treffen?
Manchmal gelang es, ihn mit seinem Steckenpferd abzulenken, der Schädellehre nach Franz Joseph Gall. Phrenologie, Hannah hatte sich sogar die lateinische Bezeichnung gemerkt. Der Umgang mit Zahlen fiel ihr leicht, und sie konnte sich gut Dinge merken. Trotzdem hoffte sie inständig, Pilz möge einen anderen Schüler aufrufen, denn sein Gebrüll störte ihre Konzentration. Er brachte sie völlig durcheinander, sodass sie kein sinnvolles Wort mehr herausbrachte.
»Hannah Bloch.« Seine Stimme kiekste und kippte über.
Die Klasse stieß kollektiv den Atem aus. Hannah fragte sich, ob Pilz den Windstoß der Erleichterung auf seiner Glatze spürte, die jedes Mal feuerrot anlief, wenn er sich aufregte.
»Bloch!« Ungeduldig klopfte er mit dem Fingerknöchel auf die Bank. »Ja, was nun? Was nun?«
Hannah stand auf, nahm ihr Schreibheft von der Bank und ging nach vorne. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich merkwürdig weich an und schwankte wie das Deck eines Schiffes. Ihr Blickfeld verengte sich, an den Rändern kroch die Dunkelheit heran. Meistens zog sie sich rasch wieder zurück, aber ein paarmal hatte sie die Besinnung verloren. Zuletzt war das vor drei Wochen im Laden ihrer Mutter passiert.
Danach war sie auf dem Sofa in dem winzigen Hinterzimmer erwacht und hatte sich an nichts erinnern können. Malisha hatte sich besorgt über sie gebeugt und ihr einen kühlen Lappen auf die heiße Stirn gedrückt. Hannah nannte sie beim Vornamen, obwohl Mutter behauptete, das gehöre sich nicht. Sie liebte den weichen Klang des seltenen hebräischen Namens. Die Leute hielten sie manchmal für Schwestern, weil Malisha viel jünger aussah, als sie war. Hannah empfand ihr Verhältnis eher als eine innige Zuneigung unter Geschwistern. Vielleicht rührte es daher, dass sie einen Weiberhaushalt führten, in dem ein Mann fehlte.
Obwohl Hannah unter Ohnmachtsanfällen litt, verzichtete Malisha darauf, mit ihr einen Arzt aufzusuchen, was ganz und gar ihrer fürsorglichen Art widersprach. Hannah kannte den Grund dafür nicht, war jedoch insgeheim froh darüber, denn sie fürchtete sich vor Ärzten und Krankenhäusern.
Hannah schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es nicht wieder geschah, nicht jetzt vor allen Kindern, nicht vor Pilz. Sie war Halbjüdin und hatte Probleme genug.
Krampfhaft umklammerte sie ihr Schreibheft. Die Gesichter verschwammen vor ihren Augen, alle starrten sie gebannt an und warteten auf das Schauspiel, das Pilz inszenieren würde. Schwungvoll klappte er die Tafel auf, die donnernd gegen die Wand krachte. Er liebte es, laut und hektisch aufzutreten, um damit seine Wichtigkeit zu unterstreichen und jeden empfindsamen Schüler einzuschüchtern.
Ihre Blicke trafen sich, Hannah erschrak. Heute war der kleine Mann offensichtlich in der Stimmung, einen seiner Schützlinge restlos zu zerstören, und seine Wahl war auf sie gefallen.
Natürlich hatte er sie nicht zufällig ausgewählt; Pilz war ein glühender Nationalsozialist, der alles Jüdische hasste. Seit einem Jahr mussten jüdische Kinder die für sie eingerichteten Schulen besuchen, und davon gab es viel zu wenige. Dass Hannah, deren Mutter Jüdin war, als Mischling ersten Grades weiterhin an seinem Unterricht teilnehmen durfte, war Pilz unerträglich. Ihre schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, komplizierte Rechenaufgaben intuitiv zu lösen, ärgerten ihn maßlos. Offenbar hatte er sich den letzten Schultag des Jahres ausgesucht, um sie vor den Augen der Klasse zu demütigen. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch retten.
Der