Die Unwerten. Volker Dützer
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Читать онлайн книгу Die Unwerten - Volker Dützer страница 4
»Sie brauchen keinen Doktor zu rufen«, erklärte Hannah. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«
»Passiert dir das öfter?«
Sie setzte sich auf. »Manchmal. Wie bin ich hierhergekommen?«
»Frau Busch hat dich gebracht.«
Sie war Bertholds Sekretärin.
»Muss ich zurück ins Klassenzimmer?«
Der Rektor schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht.«
Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Es war etwas geschehen, kurz bevor sie ohnmächtig geworden war. Sie hatte etwas zu Pilz gesagt, aber die Worte wollten ihr nicht wieder einfallen.
Der alte Rektor nahm ein Heft vom Schreibtisch und setzte sich neben Hannah auf das Sofa. Er begann, darin zu blättern. Es war das Schreibheft, das ihr im Klassenzimmer aus den Händen gerutscht war.
»Was du zu Herrn Pilz gesagt hast, war dumm«, sagte er. »Ich hätte dich für klüger gehalten.«
»Ich kann nichts dafür. Manchmal dreht sich alles, und ich sage Sachen, die ich gar nicht sagen will. Ich weiß, dass sie wahr sind, und kann nicht verhindern, dass sie rauswollen.«
Wenn sie Berthold begegnete, hatte er normalerweise einen Scherz auf den Lippen, wenigstens ein Lächeln. Heute war er ungewöhnlich ernst.
»Die Sache mit Pilz kann ich geradebiegen, aber das hier nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Sie warf einen Blick auf die Zeichnung und wandte sich ab. In manchen Augenblicken verselbstständigte sich der Stift zwischen ihren Fingern und erschuf Karikaturen, die die Welt auf eine simple und entlarvende Weise zeigten: Lächerlich und grotesk verdreht. Malisha wusste um dieses Talent und hatte ihr eingeschärft, niemandem davon zu erzählen. Oft war ihr während des Kritzelns und Malens, als tauschten Verstand und Stift die Plätze. Was herauskam, war nicht aufzuhalten.
Die Zeichnung in ihrem Heft zeigte einen Ziegenbock, der mit weit aufgerissenem Maul eine Schafherde in seinen Bann zog – ein Ziegenbock mit einem Klumpfuß und dem vor Erregung verzerrten Gesicht von Reichsminister Goebbels.
Hannah wusste, dass sie das Bild gemalt hatte, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wann das gewesen war. Sie hatte es einfach vergessen. Dass sie alltägliche Dinge vergaß und sich an andere, weit zurück liegende Begebenheiten mit einer unwirklichen Klarheit entsann, jagte ihr manchmal Angst ein.
»Mach so etwas nie wieder«, sagte Berthold ernst. »Wir leben in …«, er machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten, »… in gefährlichen Zeiten.«
»Was geschieht jetzt?«
»Herr Pilz will die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Er wird sich an den zuständige Amtswalter wenden.«
»Was ist ein Amtswalter?«
»Ein Politischer Leiter, eine Art Wächter der Partei. Er passt auf, dass du auf angemessene Weise erzogen wirst und die richtige Gesinnung entwickelst.« Berthold nahm seine randlose Brille ab, zog ein Tuch aus der Hosentasche und putzte sie umständlich. »Wir wollen überlegen, wie wir das wieder hinkriegen können«, fuhr er fort. »Du wirst … mmh-mmh … sagen, dass du dich nicht wohlgefühlt hast heute Morgen. Und dass du zur Toilette musstest. Du bist zurückgekommen und hast die Zeichnung in deinem Heft entdeckt. Sie stammt nicht von dir. Du hast niemandem davon erzählt, weil du befürchtest, man könne sie dir zur Last legen.«
»Aber das stimmt nicht.«
Berthold setzte seine Brille auf. Die Gläser funkelten im Licht der Schreibtischlampe.
»Es ist wichtig, dass du dabei bleibst, was ich dir gesagt habe. Deine Mutter hat es schwer genug. Du willst doch nicht, dass sie Scherereien bekommt, oder?«
Hannah senkte den Kopf. »Nein.«
»Soll ich wirklich keinen Arzt rufen?«
»Nein. Es geht mir gut. Ich kann allein nach Hause gehen. Es ist nicht weit.«
Berthold nickte. Hannah war entlassen. Sie ging zur Tür, wo sie die sanfte Stimme des alten Mannes einholte.
»Wir haben ein Geheimnis miteinander.«
Sie sah ihn fragend an.
»Was wir hier besprochen haben, bleibt unter uns, hast du das verstanden?«
»Ja.«
»Denk daran, du bist ein braves Mädchen. Du würdest so etwas niemals zeichnen, nicht wahr?«
»Nein, das würde ich nicht.«
Hannah verließ das Büro des Rektors. Der Unterricht war heute, am letzten Schultag des alten Jahres, früher als gewöhnlich zu Ende gegangen. Die Türen der Klassenzimmer standen offen, Hannahs Schritte hallten hohl in den leeren Korridoren.
Ohne einer Menschenseele zu begegnen, durchquerte sie die Eingangshalle und trat ins Freie. Dickbäuchige, dunkelgraue Regenwolken hatten sich vor die Sonne geschoben, doch sogar das trübe Dezemberzwielicht schmerzte in ihren Augen. Sie blieb einen Moment stehen und kniff die Lider zusammen, um sich an das Tageslicht zu gewöhnen.
Ein kaltes Prickeln kroch ihren Rücken herauf und griff nach ihrer Kehle. In dem düsteren Torweg auf der anderen Straßenseite verbarg sich jemand. Sie kannte den Durchgang, durch den die Metzger im Morgengrauen die Schweine in den Schlachthof trieben. Sie wartete eine Minute oder zwei und glaubte beinahe, sich getäuscht zu haben. Die flirrenden Schatten, die an den Rändern ihres Bewusstseins lauerten, spielten ihr häufig Streiche. Jetzt nahm sie deutlich eine Bewegung wahr. Nein, sie hatte sich nicht geirrt! Rasch zog sie sich in den Schutz der Steinsäulen zurück, die den Eingang zum Schulgebäude flankierten. Nach wenigen Augenblicken tauchte das feiste Gesicht Koschkas auf. Er war nicht allein. Maria und die blonde Ilsa, das schlimmste Schandmaul der Schule, lauerten in den Schatten der Einfahrt. Es würde noch mehr Ärger geben.
2
Hannah drückte ihre Wange an die kalte Steinsäule und beobachtete die Straße. Koschka, Maria und Ilsa warteten auf sie, um eine Hetzjagd zu starten. Es würde mit kleinen Sticheleien beginnen und damit enden, dass sie Hannah in den Dreck schubsten und ihre Hefte und Bücher zerrissen. An einem anderen Tag wäre sie vielleicht mit Beleidigungen und Demütigungen davongekommen, die sie inzwischen schweigend ertrug. Aber sie ahnte, dass während ihrer Ohnmacht mehr passiert war. Pilz hatte die Gelegenheit sicherlich genutzt, um die anderen Kinder gegen sie aufzuhetzen, und seine Anstrengung würde bittere Früchte tragen.
Ihr blieb nur zu warten. Hannah fröstelte in der kalten Luft und betrachtete den Winterhimmel. Sie mochte es, in den dahinjagenden, vom Wind zerzausten Wolken nach Bildern und bekannten Formen zu suchen. Heute war die schiefergraue, tief hängende Wolkendecke so dicht und eintönig, dass Hannah vergeblich nach vertrauten Konturen Ausschau hielt. Stattdessen sollte sie besser die Straße beobachten. Die Fassaden der Häuser waren von einem stumpfen Sepiabraun, das nasse Pflaster glänzte matt wie flüssiges Blei. Umso bedrohlicher leuchtete das Rot der Hakenkreuzfahnen,