Geschichten aus Baden und dem Elsass. Anton Ottmann
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Er: Jetzt ist er weg.
Sie: Wer?
Er: Das weiß ich doch nicht.
Sie: Du gehst mir auf den Wecker mit der Diskutiererei.
War das schön, als du noch arbeiten gegangen bist.
Er: Da muss ich dir ausnahmsweise recht geben. Was
meinst du, warum ich morgens so lange Zeitung lese?
Sie: Weil du nichts zu tun hast.
Er: Das ist mal wieder typisch. Nein, ich such’ mir
einen Job.
Sie: Und, hast du schon was gefunden?
Er: Du wirst lachen, ich bin Dozent an der Volkshochschule.
Sie: Ausgerechnet du, du kannst doch niemand was beibringen.
Er: Täusch dich da mal nicht. Der Andrang ist so groß,
dass ich den Kurs zweimal halten muss.
Sie: Also, ehrlich, das kann ich mir nicht vorstellen.
Er: Da kann man sehen, dass du meine wahren Fähigkeiten noch gar nicht erkannt hast.
Sie: Und was soll das für ein Kurs sein?
Er: „Streitkultur im Rentnerleben.“ Untertitel: „Erfahrener Rentner verrät rhetorische Tricks und Tipps.“
Sie: Ah, jetzt weiß ich, warum du die letzten Wochen wegen
jedem Mist mit mir rumgestritten hast.
Er: Ja, da hab’ ich Erfahrungen für meinen Kurs gesammelt.
Sie: Eigentlich sollte ich mich darüber aufregen. Aber wenn ich auf diese Weise öfter mal meine Ruhe habe, soll es mir gerade recht sein.
Ein badischer Elsässer
(1945)
Rudolf Holzwarth stand wie jeden Morgen erschöpft und hungrig in der Reihe. Irgendwann würden sie ihn in die Krankenbaracke tragen, und von da waren bisher die wenigsten zurückgekommen. In diesem Moment riss ihn das Wort „Elsass“ aus seiner Lethargie – „Alle Elsässer raustreten!“
Später hätte Rudolf nicht mehr genau sagen können, warum er spontan die drei Schritte nach vorne gemacht hatte. Der Kommandant kam auf ihn zu: „Du kennen de Gaulle?“
Rudolf nickte: „Französischer General.“
„Weiter“, der Kommandant bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.
Rudolf wurde es warm. Was war de Gaulle noch? „Chef der Exilregierung.“
Der Druck des Fingers wurde stärker. „Falsch, de Gaulle ist Regierungschef von legitimer Regierung. Du mitkommen“, er drehte sich auf dem Absatz um.
„Dawei“, ein Wachsoldat stieß ihn vorwärts.
In der Schreibstube blätterte der russische Offizier in seiner Akte. „Du bist in Breisach geboren, das ist doch in Deutschland?“ Er schaute fragend hoch.
„Nein, in Breisach im Elsass, auf der anderen Seite des Rheins. Das war vor dem Krieg französisch.“
„Warum du deutscher Soldat, Nazi?“
Rudolf stöhnte innerlich. „Der kapiert überhaupt nichts.“
„Ich bin in Breisach in Frankreich geboren“, versuchte er es noch einmal. „Wir wurden besetzt. Die Deutschen sagen, das Elsass ist deutsch, deshalb wurden wir zur deutschen Armee eingezogen.“ Er nahm ein leeres Blatt und einen Bleistift vom Schreibtisch und malte eine lange Linie von oben nach unten, „das ist der Rhein.“ Dann einen Kreis am unteren Ende. „Das ist Basel in der Schweiz, linke Seite Elsass, rechte Seite Deutschland.“ Mittendrin zeichnete er noch einen großen und einen kleinen Kreis: „Das ist Breisach in Deutschland und das ist Breisach in Frankreich.“ Außerdem zeichnete er Straßburg, Colmar und die Vogesen ein und machte einen großen Bogen um das Ganze. „Das ist das Elsass, wir sprechen deutsch und französisch. Die Deutschen sagen, wir sind deutsch, die Franzosen, wir sind französisch.“ Er fasste mit der Hand ans Herz, „hier sind wir Franzosen.“
Der Kommandant rief nach seiner Sekretärin, die ihm ein Formular auf den Schreibtisch legte. „Ministerium suchen für de Gaulle Elsässer.“ Der Kommandant unterschrieb, knallte einen Stempel drauf und grinste Rudolf breit an. „Du frei.“
Nun ging alles sehr schnell. Unter den wachsamen Augen eines russischen Aufsehers räumte er seine Habseligkeiten zusammen. Auf dem Hof wartete ein Lkw mit laufendem Motor. Die Fahrt endete am Bahnhof einer Kleinstadt. Dort führte ihn ein Unteroffizier an das Ende des Bahnsteigs zu etwa zwanzig weiteren Gefangenen, die verschmutzt, krank und verlaust herumstanden oder dösend dahockten. Links und rechts hörte Rudolf den ihm so bekannten Dialekt, manche sprachen auch französisch. „Das sind alles Elsässer! Was passiert, wenn die merken, dass ich keiner von ihnen bin?“ Er setzte sich etwas abseits auf seinen Rucksack und drückte die Mütze ins Gesicht.
Gegen Abend erschien ein Offizier und ließ sie antreten, Rudolf hoffte inständig, dass ihn keiner ansprach. In gebrochenem Deutsch wurde ihnen erklärt, dass sie mit dem Zug zunächst nach Tambow in ein Sammellager kämen, bevor man sie weiter nach Frankreich schickte. Dann wurden Zigaretten ausgeteilt. Rudolf steckte seine ein. Er rauchte nicht, würde sie aber zum Tauschen einsetzen. Eine Stunde später kamen zwei Frauen mit einem Kessel wässriger Suppe und einer Scheibe Brot für jeden.
Plötzlich entstand auf dem Bahnsteig Unruhe. Befehle wurden laut. Eine Dampflok mit mehreren Waggons stampfte mit Getöse in den Bahnhof. In den vorderen Wagen stiegen Zivilisten aus und ein, ganz normale Leute. Die Kriegsgefangenen, es waren inzwischen über vierzig, wurden zum Viehwagen am Ende des Zuges geleitet. Sie fuhren die ganze Nacht und den nächsten Tag durch die immer gleiche eintönige Landschaft, manchmal standen sie stundenlang auf einem Nebengleis,
einige Male wurden sie an einen anderen Zug angehängt. Schnell hatten sich kleine Gruppen gebildet, die von zu Hause erzählten und mit selbst gebastelten Karten spielten.
Am zweiten Tag setzte sich ein Colmarer zu ihrer Gruppe. Als er Rudolf sprechen hörte, fragte er: „Deinen Dialekt kenn ich nicht, wo kommst du her?“
Rudolf sagte rasch: „Aus Breisach!“
„Aber nicht aus Neuf-Brisach.“
„Der ist aus Alt-Breisach“, meinte ein anderer.
Rudolf war blass geworden. Also wussten sie, dass er nicht aus dem Elsass kam.
„Dann ist er ja ein Schwob!“
Die ganze Runde lachte. Einer sagte: „Na und, der ist wie wir im Dreck gelegen. Früher war ich oft drüben in Alt-Breisach.“
„Was ist, spielen wir weiter?“, meinte ein anderer, der nur kurz von seinen Karten hochgeschaut hatte.
Rudolf konnte es nicht glauben. Alle hatten es gewusst und keiner hatte ihn verraten, es schien ihnen nicht einmal besonders wichtig