Der rosa Wolkenbruch. Dorothea Böhmer
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Julie war nur nach Hause gefahren, weil ihr Vater einen runden Geburtstag hatte. Ihre Familie nahm Christian mit offenen Armen auf, was nichts Besonderes war, weil Julies Mutter nette, gut erzogene Männer generell mit offenen Armen aufnahm.
„Biete doch Christian ein Brot an.“
„Christian kann sich selbst ein Brot aus dem Korb nehmen, er wird wissen, ob er Hunger hat.“ Julie war wütend. Später zog ihre Mutter sie beiseite: „Christian ist so ein guter Mensch, und du bist so egoistisch. Du verdienst ihn gar nicht und musst noch viel lernen. Ihr jungen Frauen wisst nicht, wie man einen Mann glücklich macht.“
„Mir ist es wichtiger, mich glücklich zu machen. Nur dann hat Christian etwas von mir.“
„Du wirst dir die Hörner noch abstoßen.“
Christians Mutter war dagegen der Studentin aus der Großstadt gegenüber äußerst misstrauisch. Julie würde ihren Sohn vom Lernen abhalten. Ihrer Meinung nach sollte er sein Studium beenden, sich einen Job suchen und viel verdienen. Nur das zählte.
Und Christians Vater? Er war als Bauingenieur oft im Ausland tätig gewesen und betonte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, eine Beziehung könne nur funktionieren, wenn genug Geld da sei.
Eines Abends bei Christians Eltern konnte sich Julie nicht zurückhalten: „Ja, Sie haben gut verdient und Ihre Familie ernährt, aber um welchen Preis? Sie haben Ihre Frau und Christian nur am Wochenende gesehen, und wenn Sie im Ausland waren nur zweimal im Jahr. In einem Jahr sind Sie sogar Weihnachten nicht nach Hause gekommen.“
„Was hätte ich machen sollen? Das Haus musste abbezahlt, der Sohn ernährt werden.“
Christian fand die Reihenfolge bemerkenswert, sagte jedoch nichts.
Wie gut kannte Julie das aus ihrer Familie. Materiell war für sie und ihre Geschwister bestens gesorgt worden. Essen war das Wichtigste. Nur während der Mahlzeiten war es erlaubt, nicht zu arbeiten. Für die seelischen Bedürfnisse der Kinder gab es dagegen weder Zeit noch Verständnis. Vielleicht lag es an der Hilflosigkeit oder Unfähigkeit ihrer Eltern, Gefühle anzusprechen. Konflikte wurden in Julies Familie auf einfachste Weise gelöst: Sie wurden ignoriert.
Soweit Julie auch zurück dachte, immer hatte sie das Gefühl gehabt, im Weg zu stehen, Zeit zu kosten, abgefertigt zu werden. Ja, die Mutter hätte für sie Zeit, wenn sie aus dem Büro käme, sie hatte das gesamte Personalwesen und die Buchhaltung der Firma in der Hand. Nein, doch keine Zeit, sie hatte sich Arbeit mit in die Wohnung genommen. Wenn sie damit fertig wäre, dann hätte sie Zeit für Julie. Auch nicht. Nach dem Abendessen. Meist schlief ihre Mutter am Tisch vor Erschöpfung ein.
Christians Mutter hatte die Angewohnheit, seine Briefe zu öffnen, mit der Begründung, es könnte etwas Wichtiges sein. Er war zu schüchtern, um sich zu wehren. Schon früh hatte er sich in sich zurückgezogen und ging Streitereien aus dem Weg.
Die ganze Zuneigung, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die Christian und Julie in der Kindheit vermisst hatten, suchten sie jetzt beieinander. Sie konnten nicht oft genug und nicht eng genug zusammen sein.
8
In dicken Wollpullovern, die Julie gestrickt hatte, und eingemummt in Schals und Mützen stapften beide durch den verschneiten Park, die Hosen in die Stiefel gestopft, weil der Schnee hoch lag. Fast eineinhalb Jahre kannten sie sich inzwischen.
So beiläufig wie möglich sagte Christian: „Was hältst du davon, wenn ich ab März an deiner Uni studiere?“
Abrupt blieb Julie stehen. „Ist das dein Ernst?“
Er schob sie weiter. „Ja. Ich denke seit längerem darüber nach.“
„Und deine Eltern, was werden die sagen?“
„Das ist mir egal. Ein Wechsel ist kein Problem. Alle bisher abgelegten Prüfungen werden anerkannt, ich habe mich erkundigt. Es geht nur noch um die Diplomarbeit. Also … was hältst du von dem Plan?“
„Ein wunderbarer Plan! Ich kann dir gar nicht sagen wie wunderbar!“
Umschlungen stampften sie sich einen Weg durch die Winterlandschaft.
„Ich habe nur Angst davor, dass du mich bei irgendeinem Streit vor die Tür setzen wirst, meine Prinzessin.“
„Wie kommst du auf die Idee?“
„Na ja, manchmal bist du ein bisschen impulsiv.“
„Ich und impulsiv?“ Julie bückte sich, pappte einen Schneeball zusammen und warf ihn Christian hinterher, der rannte, so schnell es im tiefen Schnee nur ging.
***
Christian meldete sich an seiner alten Uni ab, lieh sich von einem Freund dessen roten VW-Bus für den Umzug und stellte, nachdem alles geregelt und nichts mehr rückgängig zu machen war, seine Eltern bei einem sonntäglichen Mittagessen vor vollendete Tatsachen.
„Übrigens ziehe ich ab März zu Julie.“
Seinen Eltern verging der Appetit schlagartig. Der Vater legte das Besteck zur Seite. Seine Stimme klang heftig.
„Das geht nicht, so kurz vor dem Abschluss. Du verlierst Zeit. Und was der Umzug kostet.“
„Julie und ich haben eine günstige Wohnung gefunden.“ Selbst wenn sich Christians Studium durch den Hochschulwechsel verlängert hätte, wäre es für ihn irrelevant gewesen.
„Hat das die Julie verlangt?“ Der Mund der Mutter war schmal geworden.
Christian sah seine Mutter an: „Nein, es war meine Idee. Ich habe sie überrascht.“
„Schöne Überraschung. Die Großstadt ist teuer. Von uns bekommst du nicht mehr Unterstützung als bisher“, kam als drohender Einwand vom Vater.
„Ich habe mich bei meiner alten Uni abgemeldet.“ Außerdem hatte er einen Nebenjob angenommen. Das sagte er aber nicht. Sein Leben ging die Eltern nichts mehr an.
9
Die Grünpflanzen wuchsen und wucherten in der hellen Einzimmerwohnung. Julie und Christian hatten es sich gemütlich gemacht mit dem ausziehbaren Schlafsofa, dem alten, abgebeizten Küchentisch mit der riesigen Schublade, in der sie Besteck und viele Kleinigkeiten verstauen konnten, mit Klappstühlen, einem Kleiderschrank, Bücherregalen und zwei Schreibtischen, die sie so stellten, dass sie Rücken an Rücken saßen, um sich bei der Arbeit nicht abzulenken. Für Bilder war an den Wänden kein Platz, doch die winzige Küchenzeile beklebten sie mit bunten Postkarten, die sie mit der Zeit von Freunden und Bekannten bekamen.
Wenige Wochen nach dem Einzug fuhr Christian zu seinen Eltern. Er hatte etwas bei einer Behörde zu regeln. Julie wunderte sich, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mitkommen wollte. Aber im Grunde war sie froh darüber,