Wuhan Diary. Fang Fang

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Wuhan Diary - Fang Fang

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      21. Tag der Abriegelung. Ich bemerke an mir ein leichtes Gefühl geistiger Abwesenheit. So lange sind wir nun schon abgeriegelt und können noch immer in unseren Chatgruppen herumalbern! Uns gegenseitig aufziehen! Ausgelassene Kommentare über unser selbst zubereitetes Essen abgeben! Wir vollbringen wirklich Spitzenleistungen. Ich liege auf dem Bett, nehme das Smartphone und lese in einer Chatgruppe die Nachricht einer Kollegin, dass sie gerade zwischen Küche und Schlafzimmer drei Kilometer zurückgelegt hat. Diese Leistung übertrifft die unseren bei weitem. Das Gefühl eines solchen Dauerlaufs ist etwas völlig anderes als die Umrundung des Ostsees mit Blick in die Landschaft. Ich bin eben alt geworden, denke ich. Mir würde dabei schwindlig.

      Heute hellt es sich auf. Am Nachmittag kommt ein Weilchen die Sonne hervor und verleiht dem Winterhimmel einen gewissen Charme. Die Anweisung, dass niemand mehr seine Wohnanlage verlassen darf, ist schon gestern an alle Viertel ergangen und dient der Verschärfung der Quarantäne. Nachdem wir so viele Tage durchgestanden und so viele Tragödien gesehen haben, bringt jeder dafür Verständnis auf und akzeptiert sie bereitwillig.

      Man macht sich Gedanken über das Problem der Nahrungsversorgung und verfügt, dass in den Wohnanlagen, entsprechend den jeweiligen konkreten Umständen, jede Familie jeden dritten bzw. fünften Tag eine Person zum Einkaufen schicken darf. Aufgrund dessen müssen die Wuhaner jetzt getrennt verderbliche und haltbare Lebensmittel einkaufen. Heute schickt meine Kollegin ihren Mann als »lebenden Lei Feng«28 zum Einkaufen. Er kauft nicht nur für seine Familie ein, sondern auch für mich und die Familie von Chu Feng und bringt die Lebensmittel an unsere Haustüren. Ich gehöre zur besonders ansteckungsgefährdeten Risikogruppe, Chu Fang hat ein Hüftleiden, das ihre Bewegungsfähigkeit einschränkt. In der Einkaufstüte finden sich Fleisch, Eier, Hühnerflügel, Gemüse und Obst. So vollständig versorgt war ich selbst zu Zeiten der offenen Stadt nie. Für mich, die täglich mit 100 Gramm Reis und ein wenig Fleisch und Gemüse auskommt, reicht das, mich drei Monate zu ernähren.

      Mein ältester Bruder teilt mir mit, dass in seiner Wohnanlage nur ein Tor geöffnet ist, nur ein Mitglied jeder Familie darf alle drei Tage die Anlage verlassen. Mein anderer Bruder erzählt, dass bei ihnen ein junger Bursche täglich sämtliche Lebensmitteleinkäufe für alle Bewohner erledigt. Jede Familie erstellt eine Liste, entsprechend der er die Einkäufe tätigt. Die Liste meines Bruders besteht aus einer Menge Gemüse, Eiern, Gewürzen, Desinfektionsmittel und Instantnudeln. Die Einkäufe kann man dann am Eingangstor der Wohnanlage abholen. Mein Bruder beklagt sich, dass sie nun wieder für längere Zeit die Wohnung nicht verlassen können. Die Wohnanlage, wo der junge Bursche wohnt, liegt gegenüber dem Zentralkrankenhaus, sie rangierte vor zwei Tagen auf Platz eins der am meisten gefährdeten Wohnanlagen. Ich habe die Worte meines Bruders Ohr: »Stehen wir’s gemeinsam durch und hoffen, dass Ende Februar endgültig die Wende zum Besseren eintritt.«

      Das ist, kurz und bündig, vermutlich jedermanns Wunsch.

      In diesen schweren Tagen zeigen sich überall gutherzige und hilfsbereite Menschen. Die Schriftstellerin Zhang Manling29 schickt mir aus der Provinz Yunnan ein Video über eine Spendenaktion aus dem Kreis Yingjiang, wohin sie während der Kulturevolution als Jugendliche verschickt wurde: Nahezu 100 Tonnen an Kartoffeln und Reis kamen zusammen. Sie bemerkt dazu, es handele sich um den Kreis, wo sich die Geschichte abgespielt hat, die als Vorlage des Films Trauerzeremonie für eine Jugend diente. Ein Film, den alle Angehörigen meiner Generation gesehen haben, eine Dokumentation der Jugend dieser Generation. Ich bin oft in Yunnan, aber vom Kreis Yingjiang habe ich noch nie gehört. Ab jetzt ist er fest in meiner Erinnerung verankert.

      Auch beim Essen browse ich weiter durchs Netz. Zumeist alte Nachrichten der letzten Tage, darunter noch immer viele Sensationsmeldungen. Sie werden wieder und wieder gepostet, mit geänderten Titeln, in veränderten Formaten oder mit vertauschten oder willkürlich eingestreuten Schriftzeichen.30 Reicht der Smartphone-Speicher nicht mehr aus, verhalten die Absender sich selbst wie Netzzensoren und entfachen einen Lösch-Overkill.

      Wenig neue Inhalte. Die Epidemie steuert auf eine Wende zum Positiven zu. Anscheinend lässt das aggressive Virus Ermüdungserscheinungen erkennen. Vermutlich wird der Wendepunkt in wenigen Tagen erreicht sein, auch wenn die Todesfälle unter den Schwerkranken nicht abnehmen. Etwas allerdings beunruhigt mich: Die Hilferufe werden zwar weniger, aber auch die selbstironischen Bemerkungen der Wuhaner nehmen ab. Das löst bei mir zwei Empfindungen aus: Erstens, die Arbeit verläuft in geregelteren Bahnen, es scheint, als bewegten sich die Dinge in die richtige Richtung. Sobald der Hilferuf eines Erkrankten ertönt, sind Helfer zur Stelle. Zweitens, die Wuhaner werden offenbar schwermütig.

      Es gibt in Wuhan nahezu niemanden, der keinen brennenden Schmerz in seinem Innern trägt. Niemand entkommt ihm. Das gilt für die Gesunden, die seit 20 Tagen an ihre Wohnungen gefesselt sind (einschließlich der Kinder), für die Kranken, die zu Beginn bei eiskaltem Regen auf den Straßen herumirren mussten, und noch mehr für die Angehörigen, die zusehen müssen, wie ihre Liebsten in Leichensäcke verpackt auf Lastwagen abtransportiert werden, und für das ohnmächtige Krankenhauspersonal, das zusehen muss, wie einer nach dem anderen unter ihren Händen stirbt. Ich könnte die Reihe beliebig fortsetzen. Diese Wunden werden sich über eine sehr lange Zeit nicht schließen. Wuhan wird, so denke ich, nach dem Ende der Epidemie eine großen Schar von Psychologen benötigen, die seelische Betreuung leisten. Wenn irgend möglich sollten alle Leute, in Gruppen aufgeteilt auf Stadtviertel, eine einmalige psychologische Konsultation erhalten. Die Menschen brauchen Möglichkeiten, Dampf abzulassen, lauthals zu weinen, anzuklagen, und sie benötigen Trost. Der Schmerz der Wuhaner lässt sich nicht durch das Deklamieren politischer Parolen lindern.

      Heute drückt mir einiges schwer aufs Gemüt. Ich habe das Gefühl, ich muss es loswerden, um nicht zu ersticken.

      Aus vielen Städten hat man Leute zur Unterstützung der Wuhaner Bestattungseinrichtungen geschickt. Diese ehrenamtlichen Helfer posieren mit hochgereckten Fähnchen und schießen Erinnerungsfotos, die sie ins Netz stellen. Die Zahl der Helfer ist groß. Betrachtet man diese Fotos, weiß man nicht, wie einem geschieht; durchdrungen von Schmerz bis ins Mark sträuben sich einem zugleich die Nackenhaare. Danke für die Unterstützung, aber ich möchte hinzufügen: Nicht alle Angelegenheiten eignen sich für derlei fähnchenschwenkendes Getue. Unterlasst es bitte, uns derart in Schrecken zu versetzen.

      Die Regierung fordert die Beamten auf, an die Basis zu gehen. Das ist löblich. Ich bin sicher, dass viele Beamte sich äußerst pflichtbewusst und gewissenhaft verhalten. Aber ich habe von einem Bekannten ein Video erhalten, das zeigt, wie eine Gruppe abgeordneter Helfer mit hochgereckten roten Fahnen anmarschiert kommt und dann vor diesen Fahnen Erinnerungsfotos schießt. Sie erwecken den Eindruck, eine Touristengruppe zu sein und keine Helfer, die in einem von der Epidemie schwer getroffenen Viertel Hand anlegen sollen. Nach dem Shooting werfen sie ihre Schutzkleidung in die Mülltonnen am Straßenrand. Der Bekannte fragt, was sie da eigentlich tun. Woher soll ich das wissen? Ich vermute, sie verhalten sich entsprechend ihren antrainierten Gewohnheiten. Dazu gehört, dass es jederzeit und überall genügt, einen Eindruck zu produzieren, der der Form genügt, um sich anschließend selbst auf die Schultern zu klopfen. Wenn Arbeit an der Basis zu ihren normalen Pflichten gehört, vergleichbar dem täglichen Dienstantritt, warum müssen sie dabei rote Fahnen schwenken?

      Bevor ich noch den Absatz fertig geschrieben habe, poppt in der Kommilitonen-Chatgruppe ein neues Video auf, das einen noch anstößigeren Eindruck hinterlässt. Ich tippe darauf, dass es sich um die Inspektion eines Behelfskrankenhauses durch eine hochgestellte Persönlichkeit handelt. Eine Gruppe von einigen zig Personen, darunter Beamte, medizinisches Personal und vermutlich auch Patienten, steht vor in ihren Betten liegenden Kranken und singt lauthals »Ohne Kommunistische Partei gäbe es kein Neues China«. Gut, das Lied hat jeder parat, aber muss man es unbedingt in einem Krankensaal in voller Lautstärke zum Besten geben? Denkt irgendjemand an die Gefühle der auf ihren Betten liegenden Kranken, die sich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert haben? Die unter Atembeschwerden leiden?

      Warum ist diese Epidemie

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