Wuhan Diary. Fang Fang

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Wuhan Diary - Fang Fang

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Sieg« über das Virus spricht, macht mich sprachlos. Wie kann man angesichts der Verhältnisse in Wuhan, ja des ganzen Landes, angesichts von Millionen angsterfüllter Menschen, von Abertausenden in Lebensgefahr schwebenden Kranken und unzähligen zerrissenen Familien von einem »Sieg« sprechen? Welcher »Sieg«? Und gar »vollständig«? Es tut mir leid, dass ich gegenüber Kollegen ausfallend werden muss. Davon auszugehen, dass manche Leute nicht nachdenken, bevor sie den Mund aufmachen, wäre noch hinzunehmen. Doch so ist es nicht. Diese Leute wägen jedes Wort gründlich ab, wenn es darum geht, den Oberen zu gefallen.

      Zum Glück lese ich gleich darauf einen kritischen Artikel eines anderen Schriftstellers. Er stellt präzise Fragen und wählt seine Worte mit Ernst und Gewicht. Es beruhigt mich zu wissen, dass es noch Autoren mit Gewissen gibt. Ich bin zwar nicht mehr Vorsitzende des Schriftstellerverbands der Provinz Hubei, aber ich bin noch immer Schriftstellerin. Liebe Kollegen aus Hubei, bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, bevor ihr mit dem Schreiben beginnt, um euch darüber klar zu werden, wen ihr preisen wollt. Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben. Ich bin alt geworden, doch mein kritischer Geist ist um keine Sekunde gealtert.

      Den ganzen Nachmittag verbringe ich hektisch damit, Essen zu kochen, das ich am Abend meiner Tochter vorbeibringen will. Sie ist am 22. Januar gegen Mitternacht von ihrer Japanreise zurückgekehrt und wurde prompt von der Abriegelung der Stadt überrascht. Sie war total unvorbereitet und hatte nichts Essbares in der Wohnung. Ich habe ihr am Neujahrsabend und am ersten Feiertag Essen vorbeigebracht. Ein paar Tage später erklärte sie, sie hielte es nicht mehr aus und wolle sich Essen liefern lassen. Ich war absolut dagegen, ihr Vater ebenso, deshalb entschied ich mich, für sie Koch- und Lieferdienste zu übernehmen. Meine Tochter wohnt nicht weit entfernt, mit dem Auto etwa zehn bis 20 Minuten. Ich erkundige mich bei der Polizei und erhalte die Auskunft, Autofahren sei kein Problem. Ich mache mich also ans Werk, bereite mich darauf vor, ihr die fertigen Gerichte bis vor die Tür zu liefern, und komme mir dabei vor wie bei der »Getreidelieferung an die Soldaten der Roten Armee«.18 Die Wohnanlage meiner Tochter ist für Außenstehende geschlossen, also übergebe ich ihr das Essen am Eingangstor. Meine Tochter ist die Einzige aus der jungen Generation meiner Familie, die in Wuhan geblieben ist, und ich muss sie gut beschützen.

      Das Eingangstor ihrer Wohnanlage führt auf die Zweite Ringstraße. Normalerweise ist hier die Hölle los. Auto an Auto und vorbeiziehende Menschenströme. Jetzt sind kaum Autos und noch weniger Menschen zu sehen. Überall hängen bunte, glänzende Neujahrsfestdekorationen, doch die Läden sind geschlossen. Die Stimmung ist gespenstisch. Zu den Militärweltspielen im vorigen Jahr hat man an den Häuserfassaden Lichterketten angebracht. Mir gehen diese blinkenden Dinger gewöhnlich auf die Nerven, aber heute, als ich im Auto die verlassene Straße entlangfahre, empfinde ich beim Anblick der fröhlich blinkenden Lichter ein Gefühl innerer Ruhe. Wir sind wirklich in eine andere Zeit geraten.

      Unerwarteterweise sehe ich Minimärkte, die noch geöffnet haben, und am Bürgersteig stehen Menschen, die Gemüse verkaufen. Ich kaufe ihnen etwas Pak Choi ab. Im Minimarkt besorge ich Eier und Milch (Eier finde ich erst im dritten Supermarkt). Ich frage die Verkäufer, ob sie keine Angst vor Ansteckung haben. Auch wir müssen leben, genau wie ihr, so ist es nun mal, bekomme ich zur Antwort. Sie haben ja so recht. Ich bewundere diese Vertreterinnen der arbeitenden Bevölkerung. Wenn ich mich ab und zu mit ihnen unterhalte, fühle ich mich auf eine merkwürdige Weise beruhigt und gestärkt. In den ersten Tagen der Panik sah man auf den verlassenen Straßen im kalten Regen und Wind die Straßenreiniger pflichtbewusst und sorgfältig den Boden fegen. Bei ihrem Anblick schämte ich mich, und meine Angst und Nervosität waren von einem Moment auf den anderen verschwunden.

      2

1
Andere zu retten dient der Selbstrettung

      Das Wetter bleibt klar und sonnig. Heute ist der achte Tag des Neujahrsfestes. Zu meiner Überraschung merke ich, dass ich den Lärm und das lebhafte Treiben vermisse, die normalerweise in diesen Tagen unseren Hof erfüllen. Wie gewohnt greife ich nach dem Aufwachen zuerst zum Smartphone und betrachte eine Statistik vom 31. Januar, laut der die Zahl der Infizierten und Verdachtsfälle in Wuhan weiterhin zunimmt, doch seit drei Tagen erkennbar langsamer. Die Zahl der Patienten in kritischem Zustand nimmt ab, die Sterberate bleibt konstant bei etwa zwei Prozent. Die Zahl der Geheilten und der aus der Quarantäne entlassenen Verdachtsfälle steigt. Endlich gute Nachrichten, die zeigen, dass die ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen. Diese Statistik hat mein ältester Bruder in die Familiengruppe gepostet, ich kann sie nicht nachprüfen, hoffe aber sehr, dass die Zahlen stimmen. Ich halte daran fest: Schafft es Wuhan, dann schafft es ganz China.

      Mir fällt ein, dass mein ältester Bruder uns als erster von dem neuen Virus berichtetet hat. Wir haben eine Familiengruppe, die nur aus uns vier Geschwistern, also meinen drei Brüdern und mir, besteht, ohne Ehepartner und Kinder. Zwei meiner älteren Brüder lehren an Wuhaner Universitäten und verfügen durch Kommilitonen und Kollegen über gute Informationsquellen. Vor allem mein ältester Bruder, der Absolvent der Tsinghua-Universität ist und als Professor an der Zentralchinesischen Hochschule für Wissenschaft und Technik in Wuhan lehrte, hat meist direkten Zugang zu aktuellen Informationen. Am 31. Dezember leitete er uns um zehn Uhr morgens einen Artikel weiter, der den folgenden Titel trug: »Neuartige Form von Lungenentzündung mit bisher ungeklärter Ursache in Wuhan«. Dahinter stand in Klammern »SARS«. Er fügte hinzu, dass er nicht wisse, ob die Information korrekt sei.

      Mein zweitältester Bruder, der in Shenyang19 lebt und arbeitet, warnte uns auf der Stelle, keiner von uns solle mehr vor die Tür gehen. Er schlug uns vor, zu ihm in den Norden zu kommen. Bei minus 20 Grad würde kein Virus überleben. Woraufhin mein ältester Bruder entgegnete, dass Coronaviren keine Hitze vertrügen, das sei doch seit der SARS-Pandemie 2003 bekannt. Kurz darauf bestätigte er, dass die Nachricht der Wahrheit entspreche und Experten der Nationalen Gesundheitskommission bereits in Wuhan eingetroffen seien.

      Mein jüngster Bruder war ziemlich erschrocken, als er erfuhr, dass sich das Epizentrum dieser neuen Krankheit auf dem Südchinesischen Markt für Meeresprodukte, also in seiner unmittelbaren Umgebung, befand. Als ich ein paar Stunden später die Nachricht las, schrieb ich ihm sofort, er solle in nächster Zeit besser nicht ins Krankenhaus gehen. Mein Bruder hat gesundheitliche Probleme und wird regelmäßig im Zentralkrankenhaus des Stadtbezirks Hankou behandelt, wo sich die Fälle mit der neuartigen Lungenentzündung in Wuhan konzentrierten. Er antwortete umgehend, er sei vor die Haustür gegangen und habe sich überzeugt, dass um das Zentralkrankenhaus alles ruhig sei. Anders als er erwartet habe, seien dort keine Reporter versammelt.

      In meiner Kommilitonen-Chatgruppe tauchten rasch Videos mit aktuellen Aufnahmen des Zentralkrankenhauses und des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte auf. Ich ermahnte meinen Bruder, beim Verlassen des Hauses eine Schutzmaske zu tragen, und schlug ihm vor, nach dem Neujahrstag erst einmal bei mir unterzukommen. Ich hielt mich damals in meiner Wohnung im relativ weit von Hankou entfernten Vorort Jiangxia auf. Er antwortete, er wolle zunächst beobachten, wie sich die Lage entwickle und dann entscheiden. Mein zweitältester Bruder meinte, wir sollten uns nicht verrückt machen. Die Regierung würde derartige Informationen nicht zurückhalten, das könne sie vor der Bevölkerung nicht verantworten. Ich teilte mehr oder weniger seine Meinung. Auch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in einer wirklich kritischen Situation Informationen unterdrücken und dem Volk die Wahrheit verheimlichen würde.

      Am 1. Januar leitete mein ältester Bruder uns erneut einen Artikel der Wuhan Evening News weiter, der von der kompletten Schließung des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte berichtete. Mein jüngster Bruder beharrte darauf, dass er in der Umgebung seiner Wohnung keine Veränderungen beobachten könne, es sei alles so wie immer. Als einfache Bürger nahmen wir die Sache allerdings von diesem Tag an sehr ernst. Wir begannen Schutzmasken zu tragen und es zu vermeiden, aus dem Haus zu gehen. Ich ging

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