Wuhan Diary. Fang Fang
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Der Grund, warum ich auf diese Ereignisse zurückkomme, ist ein Interview mit Herrn Wang Guangfa, das ich heute Morgen gelesen habe. Dr. Wang war Mitglied des zweiten nach Wuhan entsandten Expertenteams. Nachdem er verkündet hatte, das Virus sei kontrollier- und eindämmbar, hat er sich selbst angesteckt. Auch wenn es sich bei den Verlautbarungen um Schlussfolgerungen des gesamten Expertenteams handelte und er nicht allein verantwortlich dafür war, hätte man von ihm in diesem Moment ein wenig Selbstreflexion und Schuldgefühl erwarten können. Zumindest Fahrlässigkeit hätte er als Mitglied des Expertenteams einräumen müssen. Gleichgültig, wie viel der Bürokratismus und die Unfähigkeit der Behörden von Wuhan und Hubei sowie die Versuche zahlreicher Personen, die Wahrheit zu vertuschen, um das Bild eines stabilen und blühenden Systems aufrecht zu erhalten, zum Urteil der Experten beigetragen haben: Herr Wang, als Arzt, hätte in seiner Wortwahl zurückhaltender und weniger entschieden sein müssen. Hinzu kommt, dass seine Infizierung am 16. Januar festgestellt wurde, was bedeutet, dass er spätestens dann erfahren haben muss, dass das Virus von »Mensch zu Mensch übertragbar« ist. Doch weder revidierte er seine bei der Verkündung des Expertenurteils gemachte Aussage, noch machte er Anstalten, eine Warnung auszusprechen. Die Wahrheit wurde erst bei der Ankunft von Zhong Nanshan drei Tage später öffentlich gemacht.
Das Interview mit Herrn Wang ist von gestern. Mittlerweile blickt das ganze Land auf das ruinierte Neujahrsfest der Wuhaner (auch wenn diese sich großmütig geben), die schreckliche Situation der Kranken, die von tragischen Verlusten gezeichneten Familien, den Schaden, den die Abriegelung der Stadt dem ganzen Land zufügt, ebenso wie auf die Mühen und Großtaten des Herrn Wang und seiner Berufskollegen. Doch der für die gegenwärtige Situation mitverantwortliche Herr Wang zeigt im Gespräch keinerlei Gewissensbisse oder gar Schuldgefühle. Im Gegenteil, er prahlt sogar damit, dass er sich ohne seine »Besuche in den Wuhaner Krankenzimmern und Fieberambulatorien nicht infiziert und dadurch jedermann den Ernst der Epidemie begreiflich gemacht« hätte. Mir verschlägt es die Sprache. Anscheinend schreckt ihn die Aussicht, von den Wuhanern wüst beschimpft zu werden, nicht.
Ach, die Neigung, eigene Fehler einzugestehen, Reue oder gar Schuldgefühle zu zeigen, ist unter Chinesen seit jeher nicht sonderlich ausgeprägt. Mag das durch unsere Kultur und unsere traditionellen Gewohnheiten bedingt sein? Die Profession des Arztes ist es jedenfalls, »Kranke zu retten und Wunden zu heilen«. Selbst wenn ihm trotz der vielen Menschen, die infolge seiner Worte erkrankt und in Verzweiflung gestorben sind, die Allgemeinheit nur geringe Schuld anlastet, wie steht es mit ihm selbst? Kann man sich selbst so leichten Herzens aus der Verantwortung stehlen? Regt sich da im Innern nicht wenigstens ein Funken Schuldgefühl? Wo bleibt die Menschenliebe, der man sich verpflichtet hat? Und wie kann man sich in dieser Situation noch derart selbst loben? Sogar Kaiser haben sich in Zeiten nationalen Unglücks gelegentlich zu öffentlichen Schuldeingeständnissen genötigt gefühlt. Und wie steht es mit Herrn Wang (und seinem Expertenteam)? Bringen sie es tatsächlich nicht über sich, die Wuhaner Bürger um Verzeihung zu bitten? Begreifen Sie nicht, dass Ihnen als Ärzten eine Lektion erteilt wurde?
Gut, ich höre jetzt auf. Ich will lieber Herrn Wang flehentlich bitten, mit verdoppeltem Eifer »Kranke zu retten und Wunden zu heilen«. Andere zu retten dient der Selbstrettung.
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2 Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum BergHeute ist der neunte Tag des Neujahrsfestes. Wie lange halten wir das schon aus? Ich habe keine Ahnung und schaue auf mein Smartphone. Welchen Wochentag haben wir heute? Wer weiß überhaupt noch, welchen Wochentag wir haben? Ich bin schon froh, mich zu erinnern, dass heute der neunte Tag des Neujahrsfestes ist.
Der Himmel hat sich wieder verdüstert, am Nachmittag fängt es an zu regnen. Das macht die Situation der Kranken, die auf der Suche nach einem freien Bett von einem Krankenhaus zum anderen irren, noch beklemmender. Geht man vor die Tür, scheint alles, abgesehen von den spärlichen Menschen auf den hell erleuchteten Straßen, in bester Ordnung zu sein. Materiell sind wir gut versorgt. Solange man nicht krank wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Wuhan ist keineswegs die Vorhölle, als die sie sich manche vorstellen, sondern eine ruhige, schöne, sich mächtig und breit ausdehnende Stadt. Das Chaos beginnt, sobald jemand aus der eigenen Familie erkrankt. Es handelt sich nun mal um eine Infektionskrankheit, und die Kapazitäten der Krankenhäuser sind begrenzt. Den Menschen ist bewusst, dass selbst Familienangehörige von Ärzten, außer in akuten Fällen, nicht stationär aufgenommen werden. Wir befinden uns dieser Tage in der von den Experten vorhergesagten Hochphase der Epidemieentwicklung. Das bedeutet, dass wir noch so manche bittere Nachricht zu hören und zu lesen bekommen werden. Das Traurigste, das ich heute gesehen habe, ist das Video einer Frau, die einem Leichenwagen hinterher weint. Darin liegt ihre verstorbene Mutter, und es ist klar, dass die Tochter nicht an ihrer Bestattung wird teilnehmen können. Womöglich wird sie nicht einmal erfahren, was mit der Asche passiert. Für Söhne und Töchter einer Kultur, die dem Tod mehr Gewicht beimisst als dem Leben, gibt es keinen größeren Schmerz.
Es ist nicht zu ändern. Niemand kann es ändern. Alles was wir tun können, ist all das zu ertragen. Für die meisten Kranken und ihre Familienangehörigen ist das kaum auszuhalten. Aber was bleibt uns übrig? Der Satz »Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg«, der mir früher leicht über die Lippen ging, erhält dieses Mal eine ungleich tiefergehende Bedeutung.
Am Nachmittag korrespondiere ich mit einem jungen Journalisten. Er erzählt, er fühle sich ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte. Wir sähen nur die Zahlen, aber nicht, was sich dahinter verberge. Für junge Menschen ist die Konfrontation mit all den Grausamkeiten sehr hart. Der Kampf ums Überleben, das Sterben, dazu all die Verbote und Anweisungen von oben. Ich selbst fühle mich auch hilflos. Doch was bleibt uns anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen? Den Kranken können wir nicht helfen, wir können uns nur selbst ermahnen, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Was wir an Kräften übrig haben, dazu verwenden, anderen zu helfen, standzuhalten. Wie auch immer, eine weitere Woche müssen wir noch durchhalten.
Eine Statistik von heute bringt etwas erfreulichere Neuigkeiten: Die Rate der Neuinfektionen außerhalb der Provinz Hubei sinkt, die der Genesungen ist sehr hoch und die Sterberate sehr niedrig. Der nach wie vor bestehende Mangel an medizinischen Ressourcen ist der Hauptgrund dafür, dass in der Provinz Hubei die Statistik so unpräzise und die Zahl der Toten so hoch ist. Er führt dazu, dass bei vielen die Krankheit post mortem nicht diagnostiziert wird und viele Menschen erst kurz vor ihrem Tod ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das bedeutet im Klartext, dass die Krankheit keineswegs unheilbar ist. Sie kann rasch unter Kontrolle gebracht werden, wenn sie sofort nach dem Ausbruch behandelt wird.
In einem Vorschlag, der mir vorliegt, heißt es, dass die medizinischen Einrichtungen der Nachbarprovinzen Gewehr bei Fuß stehen und es dort weit weniger Kranke gibt. Zwar gebe es einige Verdachtsfälle, die sich zu akuten Fällen entwickeln könnten, aber weit weniger akute Fälle würden eine lebensbedrohliche Entwicklung nehmen. Der Vorschlag lautet, Schwerkranke in Begleitung mit Ambulanzen unter strengsten Schutzvorkehrungen von Wuhan in Infektionskliniken der Nachbarprovinzen zu transportieren. Wuhan liegt im Herzen des Landes, und viele Provinzen sind in drei bis vier Stunden erreichbar. Man könne die Menschen dort besser behandeln und vor dem Tod bewahren. Ich weiß nicht ob dieser Vorschlag umsetzbar ist, doch mir erscheint er sinnvoll.
Andererseits höre ich gerade von einem Kommilitonen, dass das Huoshenshan-Krankenhaus ab morgen bereit sei, Patienten aufzunehmen (die Nachricht ist nicht bestätigt). Dort