Amour bleu. Andreas Bahlmann
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Ich stieg die lange Treppe zum Ausgang hinauf, und kaum hatte ich die Unterwelt von Paris verlassen, schlug mir das prall gefüllte Leben der beginnenden Nacht entgegen.
Man kann sich dieser unglaublichen Lebenslust in der französischen Hauptstadt gar nicht entziehen oder verweigern. Wenn man strauchelt oder fällt, hat man eigentlich gar keine andere Wahl, als wieder aufzustehen.
Aber dennoch gibt es hier viel zu viele, die es nicht geschafft haben. Etliche von ihnen leben in den häßlichen Trabanten-Vororten, zusammengepfercht in hermetisch abgeriegelten Wohnsilos ohne Zukunft, regiert von Resignation und Gewalt, vor den Auffahrten des Péripherique, diesem chronisch verstopften Autobahn-Ring rund um den Stadtkern von Paris.
Und dann diejenigen, die es auch dort nicht geschafft haben:
Sie vegetieren, zu menschlichen Lebend-Hüllen mutiert, vom Mitgefühl der Menschlichkeit ausgeschlossen, auf Pappen gebettet oder vollkommen besitzlos, in den Katakomben der Pariser Unterwelt dahin. Lautlos anklagend, in den blank gefliesten Röhren der Metro, wo jegliche Zeit und das Leben für sie stehengeblieben zu sein scheinen, während die mit rastlos hetzenden Menschen vollgestopften U-Bahnen an ihnen vorbei rasen.
Diese Ärmsten der Armen haben es irgendwann nicht einmal mehr geschafft, diese eine, letzte Stufe zu nehmen, um im Leben zu bleiben. Zu groß ist der Sog des vom Tageslicht befreiten Röhren-Labyrinths, welches überall nach Urin riecht, aber wenigstens Wärme und Trockenheit spendet.
Für einen Moment verlor ich den Liebeskummer aus meinen Sinnen und schlenderte den Quai d’Orsay am Ufer der Seine entlang.
Träge und braun floss die Seine durch ihr mancherorts kunstvoll von Menschenhand bereitetes Flußbett. Das gemächliche Tuckern der Motoren der Bateaux Mouches, den Taxi-Booten mit den Glasdächern für Touristen, wiederkehrendes Hupen, Motorengeräusche von Autos, Motorrädern und Motorrollern, von Windbrisen getragene Akkordeon-Musik, Fußgänger-Getrappel und Stimmengewirr vermengten sich zu einer lautstarken Liebeserklärung an das Leben.
Wenig später erreichte ich das Gelände der Kirchengemeinde, und ein kleines Hinweis-Schild aus Pappe wies mir den Weg zum Konzert-Ort der Blues-Band. Ich durchquerte einen Innenhof, der wie ein Kloster-Atrium angelegt war, mit seinen überdachten und mit Blau-Basalt gepflasterten Wegen und den von kniehohen Buchsbaum-Hecken umsäumten Rasenfeldern, die im Sommer zum Im-Gras-liegen einluden, um die Sonne zu genießen.
Entlang der Wege standen zwischen Dachstützpfeilern einige Holzbänke mit Füßen aus massiv geschmiedetem Metall, und ich ließ mich nieder, um die Idylle dieses Atriums auf mich wirken zu lassen. Vom Straßenlärm war nichts mehr zu hören.
Nur fünfzig Meter entfernt befand ich mich in einer völlig anderen Welt der Stille und Ruhe.
Ich begann zu frieren und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen und die alles niederdrückende Schwermut an, indem ich aufstand und den Wegweisern aus Pappe folgte.
In einem Seitentrakt des kirchlichen Hauptgebäudes tauchte ich in den muffigen Geruch von Linoleum, Weihrauch und Bohnerwachs ein. Meine Schritte hallten, trotz der Turnschuhe, im langen und dämmerig beleuchteten Korridor. Ich entdeckte einen weiteren, mit rotem Filzstift auf Pappe geschriebenen Hinweis und betrat die breiten, abgewetzten, grauen Steinstufen einer mächtigen Treppe mit kunstvoll geschnitztem, dunkelbraun lasiertem Holzgeländer.
Der Konzertbesuch verlangte mir alpine Qualitäten ab, denn ich musste bis in den zweiten Stock hochsteigen. Mein seelischer und körperlicher Zustand in Kombination mit dem schweren, bedrückend muffigen Geruch hatte sich bereits beim Erreichen des ersten Stockwerks durch eine beängstigende Kurzatmigkeit deutlich verschlechtert. Schwer keuchend und nur mit Hilfe des Treppengeländers und seiner massiven Handläufe schaffte ich es, den Gipfel zu erklimmen. Oben knarrte ein altehrwürdiger Holzdielenboden unter meinen Schritten. Eine einseitig geöffnete, sehr hohe Holztür lud in die Konzertstätte ein. Die Ornamentverzierten Türgriffe befanden sich in Brusthöhe, im Türschloss steckte ein riesiger, handgeschmiedeter Schlüssel. Vor dem geschlossenen Türflügel saß hinter einer Schulbank eine junge, freundlich lächelnde Frau mit braunen, langen Haaren. Sie war anscheinend eine Studentin, aber bestimmt keine Französin, denn der Kragen ihres hochgeschlossenen, grünen Sweaters lag wie ein Keuschheitsgürtel um ihren Hals. Vor ihr auf der Schulbank stand eine geöffnete Geldkassette.
Ich bezahlte den Eintritt, und sie stempelte einen geflügelten Engel in meine Handinnenfläche. Dabei stützte sie mit ihrer Hand die meine und lächelte. Die zarten Hände der Hochgeschlossenen waren warm und streichelweich.
Mit einem amerikanischen Akzent wünschte sie mir viel Vergnügen beim Konzert.
Der Boden knarrte, als ich den spartanisch bestuhlten und spärlich beleuchteten Konzertraum betrat, der kaum größer als ein leergeräumtes Klassenzimmer war. Das Publikum verteilte sich übersichtlich, es herrschte eine gedämpfte, leicht gedrückte Flüster-Atmosphäre im Raum.
Die eingeschalteten Verstärker brummten im Ruhebetrieb vor sich hin, und ihre Kontroll-Lämpchen leuchteten rot und blau. Links und rechts markierten auf massive Boxen-Stative aufgebockte Gesangs-Lautsprecher die seitlichen Grenzen der ebenerdigen Bühne. Ein einsames Stativ mit Gesangs-Mikrophon bildete die Bühnen-Mitte. Dahinter, auf einem abgewetzten Perser-Teppich plaziert, stand ein schwarzes Schlagzeug mit geschundenen Fellen und Becken. Um den Hocker herum lagen einige abgespielte, an Schaft und Köpfen abgesplitterte Trommelstöcke wie überdimensionale Mikado-Stäbchen auf dem Boden.
Eine Tür öffnete sich, die Musiker näherten sich seitlich der Bühne und nahmen ihre Plätze ein. Der Begrüßungs-Applaus der anwesenden Gäste klang nicht geschlossen, es war mehr ein vereinzeltes Klatsch-Knallen. Irgend jemand pfiff sogar.
Das kam wohl aus der »Sehr-gute-Freunde-Ecke«.
Insgesamt schien sich eine eher deprimierende Veranstaltung anzubahnen. Angesichts meines ohnehin bescheidenen emotionalen Zustands belastete ich mich aber nicht mit Fluchtgedanken.
Die Blues-Band bestand aus vier Mitgliedern, in der Besetzung Gesang, Gitarre, Baß und Schlagzeug. Sie nannten sich The Red Rumbles, alles Franzosen um Anfang zwanzig. Sie waren nicht nur sichtlich nervös, sondern spielten auch gnadenlos schlecht. Die Jungs liebten den Blues, aber sie konnten ihn einfach nicht spielen, das war deutlich zu hören. Es lag nur an meinem angeschlagenen Gemüts-Zustand und an den bezwungenen zwei Stockwerken, daß ich wie in Schockstarre dieses instrumentale Gemetzel ohne mentale Gegenwehr über mich ergehen ließ.
Es war eine Veranstaltung einer Kirchengemeinde in Paris, und anscheinend half diese seligmachende Kraft und Frömmigkeit den übrigen Konzert-Gästen dabei, über das dargebotene musikalische Blues-Dilemma hinweg zu lächeln.
Diese unendliche Güte Gottes hätte ich auch gerne auf meiner Seite gehabt. Ich schaffte ein Set, dann erstarben mein Wille zur Güte und die Lust auf weiteren Konzert-Genuß.
Der Abstieg aus dem Obergeschoß war getragen von zielstrebiger Flucht-Leichtigkeit.
Ich durchquerte den Innenhof, verließ das Kirchengelände und trieb wieder hinaus, in die Nacht von Paris.
Ich stieg hinunter zum Seine-Ufer und setzte mich auf den Steg einer Haltestation der Bateaux Mouches. Das Wasser schlug plätschernd und glucksend gegen die Kaimauern, und ich dachte unwillkürlich an den Froschkönig.
Wie bitte?
»Ich bin nicht tatterig!« schoß es mir urplötzlich durch den Kopf. Was war das denn jetzt? Ich wunderte mich über meine eigenen, verwirrenden Gedanken und