Der tiefe Graben. Ezra Klein
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Es gab natürlich keine Gruppe, auf die Trump regelmäßiger einhackte als die hispanischen Immigranten. Zu Beginn seines Wahlkampfs kam er eine goldene Rolltreppe herabgefahren und verkündete: »Wenn Mexiko seine Leute schickt, dann schickt es nicht die besten. Sie schicken nicht euch […]. Sie bringen uns Drogen. Sie bringen uns Verbrechen. Es sind Vergewaltiger. Und ein paar davon sind vielleicht auch gute Menschen.« 2004 erhielt der republikanische Präsidentschaftskandidat 44 Prozent der Wählerstimmen der Hispanics. 2008 waren es 31 Prozent. 2012 dann 27 Prozent. Und 2016? 28 Prozent.
Nach dem Sieg der GOP 2004 wurde die Dominanz der Republikanischen Partei weithin Bushs tiefverwurzelter, authentischer Verbindung zu weißen Evangelikalen zugeschrieben, die zu 78 Prozent für seine Wiederwahl gestimmt hatten. 2008 gewann der Kandidat der GOP 74 Prozent der Stimmen dieser Wähler. 2012 wieder 78 Prozent. Doch Trump war anders: ein moralisch zwielichtiger Typ und notorischer Fremdgeher, der ungeniert seinen Reichtum zur Schau stellte und, als er während des Wahlkampfes einmal gefragt wurde, ob er sich jemals an Gott gewandt habe, um Vergebung zu erbitten, geantwortet hatte: »Da bin ich mir nicht sicher.« Wie also schnitt er bei der Wählergruppe der weißen wiedergeborenen Christen ab? Er bekam 80 Prozent ihrer Stimmen.
Vielleicht lässt sich das Ganze am besten durch die Brille der Parteibindung betrachten. 2016 nominierten die Republikaner einen in dritter Ehe verheirateten Milliardär, der noch wenige Jahre zuvor Demokrat gewesen war, den eine Titelstory des National Review als Bedrohung für den Konservatismus abqualifizierte[4], den mit den Republikanern nur wenig verband, der die vorherigen Bannerträger dieser Partei mit Geringschätzung betrachtete und offen über seine Sympathien für den Sozialstaat, Medicare und Planned Parenthood sprach. 2004 erhielt der republikanische Kandidat 93 Prozent der Stimmen derjenigen, die sich selbst als Republikaner bezeichneten; 2012 waren es 93 Prozent; 2016 dann 88 Prozent. Ein Rückgang, sicher, aber keine Katastrophe.
Auch die Differenzen bei den Wählerstimmen sprechen Bände. 2004 gewann der republikanische Kandidat mit einem Vorsprung von drei Millionen Stimmen. 2008 gewann der Demokrat mit einem Vorsprung von mehr als neun Millionen Stimmen. 2012 gewann der Demokrat mit einem Vorsprung von knapp fünf Millionen Stimmen. Und 2016 gewann die Demokratin auch, mit einem Vorsprung von knapp drei Millionen Stimmen. Das zwischengeschaltete Wahlmännerkollegium kippte diesen Vorsprung natürlich wieder, aber betrachtet man allein die abgegebenen Wählerstimmen, dann hat es 2016 keine auffällige Anomalie gegeben.
Und jetzt kommt Bartels’ Punkt: Bekämen Sie einen Ausdruck der Wählerdaten der letzten paar Wahlen und würden gebeten herauszufinden, welche von ihnen die bizarre war, also die, die das politische System der USA durcheinanderwirbelte und zu einer Flut von Büchern führte, die versuchten, das Ergebnis zu erklären – wären Sie dazu imstande? Die Ergebnisse von 2016 ähnelten im Großen und Ganzen denen von 2012, 2008 und 2004, auch wenn der Sieger eine der bizarrsten Gestalten ist, die das politische System der USA jemals hervorgebracht hat.
Das Überraschende an den Wahlergebnissen von 2016 ist nicht das, was passiert ist. Es ist das, was nicht passiert ist. Trump hat weder mit einem Abstand von 30 Prozentpunkten verloren noch mit einem Abstand von 20 Prozentpunkten gewonnen. Die meisten Menschen, die ihre Stimme abgaben, entschieden sich 2016 für dieselbe Partei, die sie bereits 2012 gewählt hatten. Das soll nicht heißen, dass diese Wahl keine Besonderheiten hatte oder nichts, das einer Untersuchung wert wäre. Entscheidend war, dass weiße Wähler ohne Collegeabschluss scharf in Richtung Trump abbogen und dass es ihre Überrepräsentanz in Schlüsselstaaten war, die ihm den Sieg sicherte.a[5] Doch nimmt man allein die Zahlen, dann war der Wahlkampf größtenteils ein typischer Wettlauf zwischen Republikanern und Demokraten.
Dass die Wähler Trump am Ende behandelten, als sei er auch nur ein ganz normaler Republikaner, spiegelt den enormen Druck wider, den die parteipolitische Polarisierung heute in unserem Politiksystem entfaltet – sie fällt derart stark ins Gewicht, dass sie das Ergebnis einer so bizarren Wahl wie 2016 in dieselben Spurrinnen zwingen kann wie das von Romneys Rennen gegen Obama oder Bushs Rennen gegen Kerry. Wir sind unseren politischen Identitäten so sehr verhaftet, dass im Grunde kein Kandidat, keine Information, keine wie auch immer gearteten Umstände uns zwingen können, unsere Meinung zu ändern. Solange es unserer Seite dient, werden wir eine Rechtfertigung für beinahe alles und jeden finden, und das Resultat ist eine Politik, in der es weder Leitplanken noch Standards, Überzeugungsmöglichkeiten oder Möglichkeiten einer Haftbarmachung gibt.
Aber wir selbst haben uns doch gar nicht so sehr verändert, oder? Wir arbeiten nach wie vor als ehrenamtliche Trainer in den Nachwuchsligen und kümmern uns um unsere Eltern. Wir weinen immer noch, wenn wir romantische Komödien sehen, und mähen immer noch unseren Rasen. Wir lachen immer noch über unsere Verschrobenheiten und entschuldigen uns für harte Worte. Wir wollen immer noch geliebt werden und wünschen uns immer noch eine bessere Welt. Das soll uns keineswegs von unserer politischen Verantwortung freisprechen. Aber – und hier zitiere ich ein Klagelied, das jenseits der Politik sehr häufig angestimmt wird – sind wir denn nicht besser als das?
Ich denke, ja, oder zumindest können wir es sein. Doch toxische Systeme verderben gute Menschen nur allzu leicht. Und zwar nicht, indem sie von uns fordern, unsere Werte zu verraten, sondern, indem sie unsere Werte auf eine Weise kapern, die dazu führt, dass wir einander verraten. Ein Handeln, welches wir als Individuen für rational oder sogar moralisch halten, wird destruktiv, sobald es kollektiv geschieht.
Wie die US-amerikanische Politik zu einem toxischen System wurde, warum wir daran teilnehmen und was das für unsere Zukunft bedeutet – darum geht es in diesem Buch.
Denken in Systemen
Lassen Sie mich gleich zu Beginn eines klarstellen: Dies ist kein Buch über Menschen. Dies ist ein Buch über Systeme.
Die Geschichte der US-amerikanischen Politik wird gern mit Hilfe der Geschichten einzelner politischer Akteure erzählt. Wir fokussieren uns auf ihre Genialität, ihre Hybris, ihre Anständigkeit, ihre Betrügereien. Wir erzählen von ihren Fehden, ihren Gedanken, den Bonmots, die sie bei privaten Treffen vom Stapel lassen, und den Seelenqualen, die sie Freunden im Stillen eingestehen. Wir machen in den Entscheidungen, die sie treffen, die historischen Schlüsselmomente aus. Und indem wir das tun, deuten wir an, dass sie andere Entscheidungen hätten treffen können oder dass andere an ihrer Stelle andere Entscheidungen getroffen hätten. Diese Annahme ist vom Liebreiz der Wahrhaftigkeit umweht, enthält allerdings nicht so viel Wahrheit, wie wir glauben oder wie atemlose Insiderberichte aus dem Weißen Haus und Wahlkampfintrigen uns glauben machen wollen.
Ich studiere die amerikanische Politik als Journalist schon beinahe 20 Jahre lang. Ich habe versucht, sie aus der Perspektive von Politikern, Aktivisten, Politikwissenschaftlern, Geldgebern, Wählern, Nichtwählern, Stabsmitarbeitern und Experten zu verstehen, der Perspektive aller also, die von ihr betroffen sind oder auf sie einwirken. Im Verlaufe dieser Berichterstattung traf ich so einige politische Akteure, die ich für Zyniker, Narren oder Schurken halte. Sie verkörpern den Teil der amerikanischen Politik, der kaputt ist, und die Versuchung, unsere Probleme ihrer niederen Moral oder ihrem mangelnden Urteilsvermögen anzulasten, ist groß. Aber genau das tun wir bei jeder Wahl, wenn unsere Unzufriedenheit mit dem System uns dazu bringt, einige seiner Funktionsträger zu feuern und andere an ihrer Stelle zu engagieren. Und wenn wir dann ein paar Jahre später feststellen, dass das System immer noch kaputt ist, tun wir es wieder. Und wieder. Und wieder.
Während ich