Der tiefe Graben. Ezra Klein
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Alle paar Jahre taucht eine neue Generation von Politikern auf, die versprechen, das Land über die Partei zu stellen, im Namen des Volkes statt im Namen der Mächtigen zu regieren, stärker auf »unsere guten inneren Engel« zu hören als auf das Geheul aus unterschiedlichsten Lagern. Und dann tickt die Uhr weiter, die Rebellen werden Teil des Establishments, eine breite Desillusionierung setzt ein, das Wahlvolk rückt ein Stückchen hinüber zur anderen Seite, und wir fangen wieder von vorne an. Dieser Kreislauf bildet einen Nebenfluss, der sich in den großen Strom des landesweiten politischen Aufruhrs ergießt. Es macht einen doch wirklich verrückt, wenn man unablässig versucht, ein Problem zu lösen, das immer nur schlimmer zu werden scheint.
Ich möchte in diesem Buch aus der Perspektive einzelner Individuen herauszoomen, um einen besseren Blick auf die ineinandergreifenden Systeme zu bekommen, die sie umgeben. In einigen Fällen werde ich spezielle Politiker als Beispiele anführen, doch nur insofern, als sie Marionetten breiterer Kräfte sind. Ich bin hier nicht auf eine Story aus, vielmehr möchte ich eine Blaupause erstellen, einen Wegweiser durch die Maschinerie, die politische Entscheidungen formt.
Diese Analysemethode wird in anderen Bereichen vielfach angewandt, auf meinem Gebiet aber oft ignoriert. In seinem Buch Drift into Failure: From Hunting Broken Components to Understanding Complex Systems unterscheidet Sidney Dekker, Gründer des Safety Innovation Lab an der Griffith University in Brisbane, Australien, zwei verschiedene Methoden, mit deren Hilfe die Ursachen für ein Systemversagen diagnostiziert werden können. Der traditionelle und am weitesten verbreitete Ansatz besteht darin, ein Problem zu erkennen, das schadhafte Teil ausfindig zu machen und dieses zu ersetzen. Da Dekkers Spezialgebiet Havarien sind, führt er als Beispiele Flugzeugabstürze oder Ölkatastrophen an, Fälle, in denen auf das Desaster jedes Mal eine obsessive Suche nach der einen kaputten Schraube, dem einen unterlassenen Wartungscheck, der einen in der Kälte geborstenen Landeklappe folgt. Die amerikanische Politik ist defekt, und das Problem sind Geld, Political Correctness, die sozialen Medien, irgendwelche Politikberater oder Mitch McConnell. Repariere das schadhafte Teil, so versprechen diese Analysen, und du hast wieder ein funktionierendes Ganzes.
Die Realität, so Dekker, sei jedoch eine andere: Komplexe Systeme ließen die Öffentlichkeit oftmals im Stich, selbst wenn sie ihrer eigenen Logik nach erfolgreich seien. Entdeckt man die gebrochene Schraube oder den versäumten Wartungscheck, ist man versucht zu glauben, man hätte das kaputte Teil gefunden. Übersieht man dabei jedoch, auf welche Weise die Börse das Unternehmen, das Wartungskosten eingespart hatte, belohnte, dann hat man die eigentliche Ursache der Krise übersehen und ist daher an der Aufgabe, eine Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden, gescheitert. Beim Denken in Systemen, so schreibt er, gehe es darum, »zu verstehen, wie es zu Havarien kommen kann, wenn es keine defekten Teile gibt beziehungsweise Teile nicht als defekt wahrgenommen werden«.[6]
Kann sein, dass das alles für Sie klingt, als hätte es nichts mit amerikanischer Politik zu tun. Und tatsächlich ist es ein Klischee, sie an dieser Stelle als defekt zu bezeichnen. Doch genau da liegt unser Fehler. Das politische System der USA – das alle umfasst, von den Wählern über die Journalisten bis hin zum Präsidenten – ist voller rational denkender und handelnder Akteure, die in Anbetracht der Anreize, die ihnen geboten werden, rationale Entscheidungen treffen. Wir sind eine Ansammlung funktionierender Teile, deren Bemühungen ein dysfunktionales Ganzes ergeben.
Dass die schlimmsten Akteure so häufig die größten Erfolge feiern, beweist nicht, dass das System kaputt ist, sondern vielmehr, dass sie begriffen haben, auf welche Weise es in Wahrheit funktioniert. Und genau dieses Wissen brauchen auch wir anderen, wenn wir das System verändern wollen. Das folgende Zitat von Sidney Dekker beschreibt nicht nur vieles von dem, was ich gesehen habe, sondern ebenso die wesentlichen Absichten, mit denen ich an diese Untersuchung herangehen möchte:
In den Geschichten darüber, wie Systeme ins Versagen geschlittert sind, scheitern Organisationen eben daran, dass sie gut funktionieren, und zwar innerhalb einer engen Bandbreite von Leistungskriterien – denen nämlich, für die sie in ihrer aktuellen politischen oder ökonomischen oder kommerziellen Ausgestaltung belohnt werden. Beim Schlittern ins Versagen kann es zu Havarien kommen, ohne dass etwas kaputtgeht, ohne dass jemand einen Fehler macht oder die Regeln verletzt, die als relevant erachtet werden.[7]
Ich bin anfällig für diese Anreize, weil sie auch mein Leben steuern. Ich befinde mich nicht außerhalb des Systems und schaue hinein, sondern innerhalb des Systems und schaue hinaus. Ich bin Journalist, Experte und Mitbegründer des Nachrichten- und Erklärportals Vox. Ich bin Teil der Politikmedien, und mir ist klar, dass wir alle, sosehr wir auch versuchen, es zu verbergen, politische Akteure sind und die Entscheidungen, die wir treffen, zugleich Ursache und Konsequenz der größeren Kräfte sind, die uns umgeben. Ich bin Wähler, Nachrichtenjunkie und Liberaler. Meine Motivation besteht zum Teil in der radikalisierenden Erkenntnis, dass ich oftmals nach der Pfeife eines Systems tanze, das ich nicht mag, in der Frustration, die mich überkommt, wenn mir bewusst wird, dass ich eher funktioniere wie die amerikanische Politik und weniger wie ich selbst.
Und ich bin nicht allein. Ich verbringe meine Tage damit, Akteure des amerikanischen Politiksystems zu interviewen, kluge Menschen, die ihr Bestes geben, sich den Kopf über die gewaltige Dysfunktionalität zerbrechen, die sie umgibt, und ihren eigenen Anteil daran wegerklären. Ich komme aus der politischen Berichterstattung. Ich habe über die Jahre die verschiedensten Themen beleuchtet und dabei immer wieder mitbekommen, wie sich stets ein und dasselbe Muster wiederholte. Egal, worin das Problem besteht, immer fängt es mit Meetings und Gesprächsrunden an, in denen die verschiedensten Experten zusammensitzen und aus ihrer jeweiligen Perspektive die zahlreichen Möglichkeiten diskutieren, wie es gelöst werden kann. Zu diesem Zeitpunkt gibt es stets ein breites Einverständnis in Bezug auf viele Dinge, und es herrscht die Überzeugung vor, dass ein Kompromiss zu erreichen sei, mit dem alle Seiten am Ende besser dastehen werden als zuvor. Doch mit der Zeit verengen die Politiker ihren Fokus, die Medien berichten entsprechend, und schon löst sich dieses Einverständnis auf. Was die Beteiligten anfänglich für vernünftige Kompromisse hielten, verwandelt sich in unvernünftige Forderungen. Was anfänglich eine Verhandlung war, bei der alle Seiten etwas gewonnen hätten, verwandelt sich in einen Krieg, bei dem niemand etwas gewinnt. Und alle Beteiligten sind überzeugt, dass jede der eigenen Entscheidungen bis hierher vernünftig war. Für gewöhnlich hat jeder und jede von ihnen, aus der eigenen Perspektive betrachtet, recht.
Daher bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die amerikanische Politik am besten zu verstehen ist, wenn man zwei Arten von Wissen, die häufig getrennt belassen werden, miteinander verflicht: zum einen die unmittelbaren, realen Einsichten von Politikern, Aktivisten, Regierungsbeamten und anderen Personen, die Teil meiner Berichterstattung sind, zum anderen die eher systemischen Analysen von Politikwissenschaftlern, Soziologen, Historikern und sonstigen Personen, die sowohl über die Zeit als auch die Methoden und Expertise verfügen, die amerikanische Politik in großem Maßstab zu untersuchen. Bleiben sie unter sich, ignorieren die politischen Akteure häufig die Anreize, die ihre Entscheidungen formen, und akademische Forscher übersehen die menschlichen Beweggründe, die politische Entscheidungsfindung antreiben. Zusammen jedoch werfen sie ein helles Licht darauf, wie und warum die amerikanische Politik so funktioniert, wie sie es tut.