Der tiefe Graben. Ezra Klein
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Aber es waren nicht nur Parteianhänger. In seinem wichtigen Aufsatz »Polarization and the Decline of the American Floating Voter« fand Corwin Smidt, Politikwissenschaftler an der Michigan State University, heraus, dass zwischen 2000 und 2004 selbsterklärte Unabhängige in ihrer Unterstützung einer Partei stabiler waren als selbsterklärte starke Parteianhänger von 1972 bis 1976.[13] Noch einmal: Die unabhängigen Wähler von heute stimmen verlässlicher für eine Partei und gegen die andere als die Parteianhänger von gestern. Dies ist eine bemerkenswerte Tatsache.
Allerdings ist daran etwas seltsam, und zwar Folgendes: Im selben Zeitraum schüttelte das Wahlvolk seine treue Parteiengefolgschaft ab. Noch 1964 sagten etwa 80 Prozent der Wähler, sie seien entweder Demokraten oder Republikaner. Bis 2012 war diese Zahl auf 63 Prozent gefallen, »den niedrigsten Prozentsatz der politischen Selbstzuordnung in der Geschichte der American National Election Studies«, notieren Abramowitz und Webster – während der Anteil der selbsterklärten Unabhängigen stark zunahm.
Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Trends zu widersprechen: Wie kann das Wahlvolk zugleich parteilicher in seinem Abstimmungsverhalten und unabhängiger in seiner Parteienzugehörigkeit werden? Sollte denn die beständige Unterstützung einer Partei nicht zu einer engeren Bindung an diese Partei führen?
Das Schlüsselkonzept, mit dem wir es hier zu tun haben, heißt »negative Parteibindung«. Parteiliches Verhalten ist nicht von positiven Gefühlen gegenüber der Partei motiviert, die man unterstützt, sondern von negativen Gefühlen gegenüber der Partei, die man ablehnt. Falls Sie sich je bei einer Wahl mit der Kandidatin, die Ihre Stimme bekam, ein bisschen unwohl gefühlt haben, zugleich aber Angst vor dem Neandertaler oder Sozialisten hatten, der gegen sie angetreten war, dann waren Sie negativ parteilich. Wie sich herausstellt, ist es vielen von uns schon einmal so gegangen. Eine Umfrage des Pew Institute fand 2016 heraus, dass selbsternannte Unabhängige, die dazu neigten, für die eine oder andere Partei zu votieren, eher negative Motive dafür hatten. Eine Mehrheit sowohl der den Republikanern wie auch der den Demokraten zuneigenden Unabhängigen gab an, einer der Hauptgründe für ihre Neigung läge darin, dass die Politik der jeweils anderen Partei schlecht für das Land sei. Im Gegensatz dazu gab nur ein Drittel aus jeder Gruppe an, ihre Motivation bestünde darin, die Politik der Partei zu unterstützen, die sie wählten.[14]
Hier dann also eine Zusammenfassung der amerikanischen Politik der letzten 50 Jahre: Wir halten beständiger zu der Partei, die wir wählen. Wir tun das aber nicht, weil wir unsere Partei inzwischen mehr mögen – tatsächlich mögen wir die Parteien, für die wir stimmen, inzwischen weniger –, sondern weil unsere Abneigung gegen die gegnerische Partei gewachsen ist. Selbst dann, wenn die Hoffnung nachlässt und der Wandel ins Stocken gerät, schreiten Angst und Hass voran.
Die Frage lautet, warum das alles passiert ist. Welche Veränderungen in der amerikanischen Politik haben dazu geführt, dass Wähler sich inzwischen mit derart großer Verlässlichkeit parteilich verhalten?
Der rationale Parteianhänger
Der Begriff »Parteianhänger« ist in den USA negativ konnotiert. Die Aussage: »Die Amerikaner sind seit 1972 mehr und mehr zu Parteianhängern geworden«, ist nicht neutral. Sie liest sich wie eine Anklage. Eine Beleidigung. Parteilichkeit ist schlecht. Parteilich zu sein ist undurchdacht, ärgerlich, ja sogar unamerikanisch.
Parteianhänger – das sind genau die Leute, vor denen uns schon George Washington in seiner Abschiedsrede gewarnt hat. Sie …
setzen an die Stelle des delegierten Willens der Nation den Willen einer Partei, bilden häufig eine kleine, jedoch kunstvoll und geschäftstüchtig agierende Minderheit innerhalb der Gemeinschaft; außerdem machen sie, entsprechend alternierenden Triumphen verschiedener Parteien, die öffentliche Verwaltung zu einem Spiegel schlecht abgestimmter und miteinander unvereinbarer Projekte verschiedener Lager anstatt zum Ausführungsorgan konsistenter und förderlicher, in gemeinsamer Beratung und von wechselseitigen Interessen modifizierter Pläne.
Widerliches Zeug.
Washingtons Rede nahm vieles von dem vorweg, was in der amerikanischen Politik noch kommen sollte. Wie Sean Wilentz, Historiker an der Princeton University, im Politikmagazin New Republic schrieb, handelte es sich um einen »höchst parteilichen Appell, vorgebracht in Form eines Angriffs auf die Parteilichkeit und die niederen Demagogen, die diese geschürt haben«.[15] Washington hielt diese Rede, deren Co-Autor Alexander Hamilton war, in einer Zeit, als Amerika sich in ein Zweiparteiensystem aufspaltete – die Föderalisten, angeführt von John Adams und Hamilton, und die Demokratischen Republikaner, angeführt von Thomas Jefferson und James Madison. Washington war im Grunde Föderalist, und seine Warnung vor dem Entstehen politischer Lager war eine Warnung vor jenen, die angetreten waren, um die von ihm ausersehenen Nachfolger herauszufordern. Wilentz schreibt dazu: »Jefferson oder seine Unterstützer werden in Washingtons Rede an keiner Stelle explizit erwähnt, doch die unverhohlene Attacke gegen eine organisierte politische Opposition war unmittelbar gegen sie gerichtet.«
Washingtons Einwände mögen parteiisch gewesen sein, seine Instinkte waren durch und durch amerikanisch. So sieht die Balance aus, die das amerikanische Volk seit damals gehalten hat: ein System, das von politischen Parteien definiert wird, deren Existenz wir anprangern. Ideologen und Parteianhängern misstrauen wir. Zentristen, Gemäßigte, Unabhängige verehren wir. In einem aufschlussreichen Experiment forderten Samara Klar und Yanna Krupnikov Probanden dazu auf, über politische Meinungsverschiedenheiten nachzudenken, und gaben ihnen anschließend Fotos von fremden Menschen in die Hand, von denen einige als Unabhängige bezeichnet waren, andere dagegen als Parteianhänger beschrieben wurden. Die Unabhängigen wurden als attraktiver bewertet, und zwar »sogar dann, wenn, gemessen an objektiven Standards, die Parteianhänger eigentlich attraktiver waren«. Bei einem anderen Test dieser Theorie fanden Klar und Krupnikov heraus, dass sich Amerikaner mit fast 60 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als »Unabhängige« bezeichnen, wenn sie aufgefordert werden, einen guten Eindruck auf eine fremde Person zu machen.[16] Unabhängig zu sein hat nichts damit zu tun, wen man wählt. Es hat etwas mit unserem persönlichen Branding zu tun.
Unsere Wertschätzung für Unabhängige spiegelt unsere Ablehnung gegenüber dem Wesen der Parteibindung wider. Wir möchten unsere tiefen Meinungsverschiedenheiten wegzaubern, und es ist bequem, die Schuld an ihrem Vorhandensein stattdessen den Manövern fehlgeleiteter Parteianhänger zuzuschreiben. Doch Parteianhänger sind keine bösen Menschen, die das politische System mit Hilfe von irrationalem Handeln und Eigennutz pervertieren. Es sind ganz normale Menschen – Sie und ich –, in denen sich die tiefen Differenzen widerspiegeln, die politische Systeme weltweit prägen. Und je verschiedener die Parteien sind, desto rationaler wird Parteilichkeit.
Folgendes ist in der amerikanischen Politik während der letzten Jahrzehnte passiert: Die Unterschiede zwischen den Parteien sind sichtbar und unleugbar größer geworden und das Land als Reaktion darauf auf der rationalen Ebene parteilicher.
Seit 1994 hat das Pew Research Center umfassende Studien zur politischen Meinungsbildung unter Amerikanern durchgeführt, und die Ergebnisse sind drastisch.[17] So bezeichneten 1994 zum Beispiel 39 Prozent der Demokraten und 26 Prozent der Republikaner Diskriminierung als Hauptgrund dafür, dass viele Schwarze in der Gesellschaft »nicht vorwärtskommen«. Bis 2017 war der Anteil der Demokraten, die dieser Aussage zustimmten, auf 64 Prozent hochgeschnellt, während es bei den Republikanern nur noch 14 Prozent waren.
Weiterhin stimmten 32 Prozent der Demokraten und 30 Prozent der Republikaner 1994 der Aussage zu, dass Immigranten das Land stärker machten. Bis 2017 war dieser Anteil bei den Demokraten auf 84 Prozent geklettert, bei den Republikanern auf lediglich 42 Prozent.
1994 stimmten 63 Prozent der Republikaner und 44 Prozent der Demokraten der Aussage zu, arme Menschen hätten es leicht, weil sie Staatshilfen bekommen könnten, ohne irgendetwas