Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
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Читать онлайн книгу Im gleißenden Licht der Sonne - Clare Clark страница 12
»Mein Platz ist hier«, sagte sie bestimmt. »Hier bei Ihnen.«
In dem maschinengeschriebenen Bericht von Fräulein Grüber stand, dass Harald Baeck in Friedrichshain wohnte. Er hatte kein Telefon. Das Einwohnerverzeichnis von Berlin führte ihn als Angestellten bei der Siemens-Fabrik in Spandau.
»Eine Fabrik?«, fragte Julius zweifelnd. »Sind Sie sicher, dass er unser Mann ist?«
»Ich habe angerufen, um es zu überprüfen«, entgegnete Fräulein Grüber. »Er arbeitet seit drei Jahren dort. Er schreibt Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte.«
Die einfache Fahrt nach Siemensstadt kostete einhundertfünfzigtausend Mark. Harald Baeck sah Julius neben dem uniformierten Polizisten am Drehkreuz stehen und wurde aschfahl. Er fuhr herum und versuchte, sich einen Weg zurück durch die Schar der Passagiere zu bahnen, aber jetzt nach Dienstschluss war der Andrang zu stark. Julius drückte dem Polizisten einen Geldschein in die Hand. Dann zwängte er sich durch die Menge und legte eine Hand auf Baecks Schulter.
»Wir müssen uns unterhalten.«
Sie gingen in eine Bar in der Nähe des Bahnhofs. Julius bestellte für jeden einen Weinbrand. Baeck kippte seinen in einem Zug hinunter. Julius musste an Die Brüder Karamasow denken, an die Stelle, als Rakitin zu Mitja sagt: Ohne Gott ist also alles erlaubt, woraufhin Mitja lachend erwidert: Hast du das noch nicht gewusst? Ein kluger Mensch kann alles tun. Julius glaubte nicht an Gott. Er glaubte an die Schönheit und an das wunderbare, erhabene Streben des menschlichen Geistes. Oder zumindest hatte er früher einmal daran geglaubt.
»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte er.
Baeck ging darauf ein. Am nächsten Tag unterzeichnete er wie vereinbart in Böhms Büro eine Erklärung, in der er angab, mit der Beklagten in der Nacht des 9. Februar 1923 in ihrer ehelichen Wohnung Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Außer bei der Bestätigung seines Namens habe Harald Baeck, wie Böhm Julius erzählte, kein einziges Wort gesagt.
Mehr Druckerpressen wurden requiriert, um Banknoten zu drucken. Es gab Gerüchte von Papierrationierungen, von Arbeitsniederlegungen und Streiks. Geisheim lud Julius zu einer Besprechung in die Redaktion der Tribüne ein und teilte ihm mit, er würde die Seitenzahl reduzieren, bis sich die Lage gebessert habe. Julius erhob keine Einwände. Es kaufte ohnehin niemand mehr eine Zeitung. Langsam ging er nach Hause, er hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, das Hutband ziehe sich um seinen Schädel immer enger zusammen. Frau Lang riss geräuschvoll die Haustür auf.
»Er ist einfach so hereingeplatzt«, zischte sie, während sie Julius den Hut abnahm. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie nicht da sind, und da ist er einfach hereingeplatzt, als wäre er hier zu Hause.«
Julius seufzte. »Wovon reden Sie? Wer ist hereingeplatzt?«
»Ich fürchte, sie meint mich.« Rachmann stand in der Tür zum Morgensalon. »Ich weiß, ich hätte anrufen sollen, aber ich fahre morgen zurück nach Düsseldorf und wollte mich bei Ihnen bedanken. Für die Freundlichkeit, die Sie mir erwiesen haben. Ich hätte nicht auf Sie gewartet, wenn Fräulein Grüber nicht gesagt hätte, dass Sie sich vielleicht … aber wenn es gerade ungünstig ist, verstehe ich das natürlich. Solche Überfälle sind sonst nicht meine Art.« Er lächelte Julius zu, und Julius lächelte zurück, trotz seiner Kopfschmerzen. Der Eifer des Jungen und seine Verlegenheit, seine Unfähigkeit, sich zu verstellen, hatten etwas Herzerfrischendes. Neben ihm fühlte Julius sich verbraucht und verstaubt.
»Dann bin ich froh, dass Sie diesmal eine Ausnahme gemacht haben«, sagte er. »Kaffee bitte, Frau Lang, wenn Sie so nett wären.«
»Natürlich.« Frau Lang lächelte beflissen, doch Julius sah, dass sie Rachmann mit zusammengekniffenen Augen beäugte, als wäre er einer von Luisas unzivilisierten Gästen und könnte sich jeden Augenblick auf die Treppe übergeben oder mit dem Silber davonmachen.
»Und Kuchen«, fügte Julius nachdrücklich hinzu. »Wir haben doch Kuchen, oder?«
Der Kuchen glänzte goldgelb und war ordentlich mit Apfelscheiben belegt. Als Frau Lang ihn ohne viel Aufhebens auf den Tisch stellte, machte Rachmann große Augen wie ein Kind. In den Berliner Bäckereien gab es jetzt keinen Kuchen mehr zu kaufen. Julius schnitt ihm ein Stück ab und sah zu, wie er behutsam jeden einzelnen Krümel verspeiste.
Sie unterhielten sich über Kunst. Rachmanns mangelnde Bildung wurde durch seine ungeheuchelte, überschäumende Leidenschaft wettgemacht. Er habe sich in dem holländischen Städtchen Haarlem unweit der Küste zum ersten Mal und dann immer wieder aufs Neue in die Porträts von Franz Hals und in den Duft des Meers verliebt. Er war damals acht Jahre alt gewesen.
»Obwohl ich das mit Hals wohl gar nicht zugeben sollte«, schob er hinterher. »Nicht wenn mir daran liegt, dass Sie eine gute Meinung von mir haben. Ich sollte lügen und sagen, es sei Rembrandt gewesen.«
Julius lächelte. »Vielleicht, aber ich würde merken, dass Sie gelogen haben. Rembrandt ist der größere Künstler, das ist wohl wahr, aber sein Werk hat etwas Düsteres, es hält uns unsere Sterblichkeit vor Augen. Bei Hals hingegen dreht sich alles um das Diesseits, um die Lebendigkeit, sein impulsiver Pinselstrich ist wie eine Lachsalve. Ein Kind entscheidet sich natürlich für Hals. Es ist eine Frage der Stimmlage, Hals ist Sopran und Rembrandt Bass.«
»Das trifft es«, sagte Rachmann und lachte entzückt. »Das trifft es auf den Punkt.«
Bis zu jenem Nachmittag hatte Julius nicht gewusst, dass er Nostalgie für etwas empfinden konnte, was erst noch kommen würde. An jenem Nachmittag sah er zum ersten Mal seinen Sohn dort sitzen, wo Rachmann jetzt saß, mit hingerissener Miene, den Kopf voller Ideen, die Julius mit Bedacht dort eingepflanzt und eifrig gehegt hatte. Als der Junge zur Welt kam, war es mehr eine Spielerei gewesen, über Orte und Kunstwerke nachzudenken, die die Phantasie eines Kindes am besten anregten und sein ästhetisches Feingefühl förderten. Er nahm die Tierbilder ab, die Luisa im Kinderzimmer aufgehängt hatte, und ersetzte sie durch zwei Aquarelle von Pissarro, eine Bäuerin in blauer Schürze und eine zweite, die ihre Haare flocht.
»Warum kümmert dich das überhaupt?«, wandte Luisa ein, doch er bestand darauf. Ein Kind war noch formbar, wie Ton. Er würde nicht zulassen, dass sein Sohn durch etwas verrohte, das brutal, geistlos und hässlich war.
Was für eine Hoffnung hatte der Junge jetzt noch, abgeschottet in München bei Luisas Eltern? Sie würden dem Jungen eine bayerische Provinzialität einimpfen, ihn mit Böcklin-Reproduktionen, Lederhosen und rabiaten Spielen im Freien ersticken. Julius war in Gesellschaft solcher Jungen aufgewachsen. Er hatte sie alle verachtet.
Er zeigte Rachmann van Goghs Zeichnung des Mädchens in der gestreiften Jacke, von Vincent La Mousmé genannt, als Frau Lang an die Tür klopfte. Er hatte gar nicht gemerkt, wie spät es schon war. Widerstrebend legte Rachmann die Zeichnung nieder, als könnte er sich nur schwer davon trennen.
»Überfallen Sie mich doch bald einmal wieder«, sagte Julius beim Abschied, und es gab ihm ein Hochgefühl, wie das Gesicht des jungen Mannes daraufhin zu strahlen begann, wie unverhohlen er seine Freude zeigte. Julius wollte an jenem Abend zu einem Konzert in der Philharmonie, und er hätte eigentlich nach oben gehen und sich umziehen müssen, doch er blieb in seinem Arbeitszimmer, eine Hand an der Lehne des Stuhls, auf dem Rachmann gesessen hatte. Auf dem Tisch