Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
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»Wie das Berliner Wetteramt meldet, steigt das Barometer, und es wird über Nacht aufklaren«, verkündete der Rundfunksprecher. »Die Aussichten sind freundlicher.«
Ging in diesem Moment etwas in Deutschland kaputt? Es gab keine andere Erklärung, Julius fand zumindest keine. Die Inflation grassierte schon seit Monaten, seit Jahren, aber bisher hatte die Krise immer eine Art Gestalt gehabt, eine Struktur, die zumindest für Julius einen Sinn ergab. Auch wenn die Welt auf den Abgrund zusteuerte, hielt sie sich dennoch weiterhin leidlich an die Grundregeln der Ökonomie und der Physik. Banknoten zirkulierten. Löhne wurden gezahlt und Güter verkauft, wenngleich zu skandalösen Preisen. Die Mark blieb eine Recheneinheit mit einem absoluten Wert, auch wenn dieser mit jeder weiteren Woche schwand. Obwohl man nie wissen konnte, was man noch dafür bekam, war die Mark bis jetzt ein Maßstab gewesen.
Urplötzlich hatte sich das geändert. Die Aussichten werden freundlicher. Mit dieser zuversichtlichen Ankündigung brach die Welt aus ihrer Verankerung und zerschmetterte alles. Innerhalb weniger Wochen wurde die Inflation zu einem Fiebertraum, besinnungslos und unaufhaltsam, und Julius war reich. Nicht reich, wie sein Vater es mit seinen Fabriken und Aktien gewesen war, sondern obszön, unaussprechlich reich. Zwar stagnierten in Europa die Verkaufszahlen von Vincent, und die Tantiemen versiegten allmählich. Auch die amerikanischen Erlöse erwiesen sich als enttäuschend. In Paris oder New York hätte es für Julius kaum zum Leben gereicht. In Berlin war er ein Maharadscha. Mitte August war ein Dollar, der noch vor einem Monat achtzehntausend Mark gekostet hatte, eine Million Mark wert. Und im September bereits einhundert Millionen. Es war wie eine Höllenfahrt in einem Aufzug, dessen Seil gerissen war, ein Sturz in hilflosem Erstarren bis zum Aufprall, nur dass dieser Aufprall nicht erfolgte. Der Aufzug raste nur immer schneller nach unten, einhundertfünfzig Millionen, zweihundert Millionen. Jede Null war ein weiterer Edelstein an Julius’ Kette, die inzwischen so schwer war, dass er den Kopf kaum noch heben konnte.
Eines Abends bei einem Theaterbesuch wurde er in der Pause von einem Bekannten bedrängt, einem Bankier. Er gehöre einem Konsortium an, das in Berlin ganze Straßenzüge aufkaufe, erzählte er. Häuser, die vor einem Jahr für vielleicht fünfzigtausend Mark veräußert worden wären, wechselten jetzt für weniger als fünfhundert Dollar den Eigentümer. Er drängte Julius, in dieses Geschäft zu investieren.
»Sie machen damit einen Mordsreibach«, sagte er, aber Julius lehnte ab. Anständige Menschen, erwiderte er in eisigem Ton, sind keine Halsabschneider. Er verschwieg jedoch, dass er kürzlich einen vorzüglichen Akt von Seurat unter der Hand für sehr wenig Geld erstanden hatte. Kunstwerke waren nicht wie Ziegelsteine oder Mörtel, sie hatten keinen spezifischen, objektiven Wert. An einem Nachmittag im April vor fast dreißig Jahren war Julius in die Galerie von Ambroise Vollard in der Pariser Rue Laffitte spaziert. Das Selbstbildnis hatte ihn schier umgehauen, aber Vollard zuckte nur die Achseln und nahm es achtlos von der Wand, als wäre es eine der Klecksereien von der Rive Gauche. Er habe die Nase voll von hoffnungslosen Fällen, erklärte Vollard mürrisch und verkaufte Julius das Bild für sechshundert Franc. Ein Gemälde war nur das wert, was ein Käufer dafür auszugeben bereit war.
Rachmann ließ nicht von sich hören. Julius dachte oft an ihn und hoffte, dass er es schaffte, sich über Wasser zu halten. Die Sache mit dem Trübner war zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt passiert. Tag für Tag gingen immer mehr Geschäfte bankrott. Die Arbeitslosigkeit stieg unaufhörlich. Ein Ei kostete eine Milliarde Mark. Eine Milliarde – ein Wort, das kaum mehr sonderliche Beachtung fand. Im Umland der Stadt bewachten die Bauern ihre Kartoffeläcker, bewaffnet mit Gewehren. Julius sollte an seinem neuen Buch arbeiten. Manchmal, wenn der Tag sich neigte und die Schatten die Zimmerecken wie Spinnweben einhüllten, sah er hoch und einen Augenblick lang, bevor es ihm wieder einfiel, war es immer noch da, dieses gequälte, quälerische Gesicht, und fixierte ihn mit seinem durchdringenden, unverwandt starren Blick. Manchmal färbte die untergehende Sonne das Weiß der Wand zu einem zarten Rosa, und der leere Nagel schimmerte wie ein Auge.
Dank der Käufer aus dem Ausland gehörte Hugo Salazins Galerie zu den wenigen, die nicht hatten schließen müssen. Julius wusste nicht, was ihn mehr deprimierte: Salazins Künstler oder seine Kunden, aber als er eine Einladung zur Eröffnung der neuen Ausstellung erhielt, sagte er auf der Stelle zu. Bei seinem Eintreffen drängten sich in der Galerie bereits die Gäste. Er bahnte sich einen Weg durch das Stimmengewirr und suchte in der Menge nach Rachmanns kupferfarbenem Haarschopf, konnte ihn aber nirgends entdecken, obwohl er mehrmals durch sämtliche Räume wanderte. Enttäuscht und ein wenig besorgt stand er unschlüssig herum, immer ein Auge auf die Tür gerichtet. Die meisten Exponate schienen bereits verkauft. Anscheinend spielte es keine Rolle, dass sie nichts offenbarten als ihre Oberfläche, wie Spiegel. Vielleicht, dachte Julius trübsinnig, ist dies das Geheimnis ihres Erfolgs. Die Dadaisten mochten Narren und Scharlatane sein, aber bei ihrer Destruktion allen künstlerischen Tuns waren sie auf eine unabänderliche Wahrheit gestoßen: Eine Gesellschaft hat die Kunst, die sie verdient.
Und noch immer kein Rachmann. Schließlich schob sich Julius, des Wartens überdrüssig, durch die Menge Richtung Ausgang. Walter Ruthenberg stand unweit der Tür. Als er Julius bemerkte, schüttelte er den Kopf und verdrehte die Augen.
»Ein ganz schönes Spektakel, was?«, sagte er über den Lärm der Stimmen hinweg. »Und nichts dahinter. Ich bin überrascht, Sie hier zu treffen. Entspricht ja nicht gerade Ihrem Geschmack.«
Julius zuckte die Achseln. Ruthenberg, der als Professor an der Universität lehrte, hatte seine wissenschaftliche Monographie über van Gogh zur selben Zeit veröffentlicht wie Julius seinen Vincent. Er hatte Ruthenberg bemitleidet, bis er merkte, dass dieser gegenüber ihm genauso empfand.
»Ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen«, sagte Ruthenberg. »Hätten Sie kurz Zeit?«
Sie traten hinaus auf den Gehsteig, wo es ruhiger war. Außerhalb des Lichtscheins, der aus der Galerie kam, lag die Straße im Dunkel. Die Stadtverwaltung ließ die Laternen nicht mehr brennen, die Stromkosten überstiegen ihr Budget. Ruthenberg zog eine Pfeife und einen Tabakbeutel aus seiner Tasche. »Hat mir ein fürsorglicher Freund aus Amsterdam geschickt. Auf die meisten Dinge kann ich verzichten, aber das hier?« Er zupfte sorgsam ein Häufchen Tabak heraus und stopfte es in den Pfeifenkopf. »Ich habe etwas, was Sie vielleicht interessiert. Einen ziemlich schönen kleinen Corot. Soviel ich weiß, kaufen Sie an.«
Er spielte auf den Seurat an. Julius hätte sich denken können, dass man in Berlin nichts unbemerkt unter der Hand kaufen konnte.
»Die Provenienz ist unsicher, aber wann ist sie das bei einem Corot nicht?«, sagte Ruthenberg. Er zündete ein Streichholz an, hielt es an die Pfeife und sog am Stiel. »Ein junger, mir bekannter Händler hat ihn in Hamburg gefunden und mir zur Echtheitsprüfung gebracht. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn behalten oder noch besser nach Paris bringen, aber wenn Sie interessiert wären …«
Julius runzelte die Stirn. Sollte er anbeißen, würde Ruthenberg eine fette Provision kassieren. Für die meisten Händler mit einem Corot im Angebot wäre das kein lohnendes Geschäft »Welcher Händler?«, fragte er. »Kenne ich ihn?«
»Rachmann heißt er, die Gemäldegalerie hat ihn mir empfohlen. Kluger Junge, aber noch grün hinter den Ohren. Er wollte Francs haben.«
Julius starrte Ruthenberg an. Dann zuckte er betont beiläufig die Achseln. »Ich könnte wohl einen Blick darauf werfen. Ist er noch in Berlin?«
»Was haben Sie beide hier draußen zu klatschen?«
Julius wandte sich um. Salazin stand in der Tür, seine Augen über den Tränensäcken glänzten.
»Walter