Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können. Wolfgang Issel
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Es muss nicht unbedingt ein Bedürfnis von innen heraus sein. Auch Menschen, die sich einer ihnen wichtigen Sache mit Haut und Haar verschrieben haben, neigen aus purer Fehleinschätzung dazu, zu glauben, ihnen sei zur Durchsetzung ihrer hehren Ziele nun alles erlaubt:
In der Einbahnstraße fährt der Radfahrer, obwohl ein Radweg existiert, in voller Absicht so gemächlich in der Mitte der Straße, dass er vom zunehmend genervten Autofahrer nicht überholt werden kann. Alles in dem wohligen Gefühl, der bessere Mensch gegenüber diesem »üblen Stinker« zu sein und diesen Klimasünder in die Schranken zu weisen.
Die Ursache für das Extrem: Der Algorithmus des Radfahrers dreht sich fast ausschließlich um sein persönliches Thema. Nur noch daraus gewinnt er seelische Energie. In seiner Überheblichkeit fühlt er sich dem Klimasünder moralisch überlegen und leitet daraus die Berechtigung ab, diesen provozieren und schließlich Macht über ihn auszuüben zu dürfen. Er bestimmt, ob überholt wird oder nicht, denn für einen seiner Meinung nach unzweifelhaft guten Zweck muss schließlich alles erlaubt sein. – Ideologie statt Übersicht und sozialem Empfinden und Denken.
Wie das? Andere seelische Quellen, seine Freunde beispielsweise, müssen zurückstehen und zuschauen, wie er sich – ohne darüber hinaus zu denken – immer weiter in sein Gutmenschentum hineinsteigert. Die Gefahr solch einseitigen Engagements ist die gleiche wie bei Drogen: Die Dosis muss immer weiter erhöht werden. Seine Verhaltensweisen werden damit zwangsläufig verbissener und seine Aktionen extremer.
Langsam aber sicher wird aus dem eben noch akzeptablen Idealisten ein starrköpfiger Tyrann mit der giftigen Traumvorstellung einer öffentlichen Verbrennung aller SUVs unter dem Beifall gleichgesinnter Massen. Gute Menschen müssten das gegen schlechte Menschen doch tun dürfen!
Auch esoterische Strömungen jeglicher Art entstammen dem reichhaltigen Werkzeugkasten deines Algorithmus. Wenn das Schönen und Manipulieren der Realität den seelischen Abwärtstrend immer noch nicht aufhalten kann, dann muss er halt zu Illusion und Fata Morgana greifen. Wie in einem Science-Fiction-Film sind dann der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt.
Das kann alles nicht wahr sein? Doch! Es scheint nur so, als ob die Natur da irgendwie chaotisch arbeiten würde, ist aber nicht so, denn es gibt im Hintergrund eine nicht verhandelbare Größe: Einen Minimalpegel an Energie, der auf keinen Fall unterschritten werden darf. Ohne diese Minimal-Energie würde das Lebewesen in die Depression fallen und – ohne Unterstützung anderer – nicht mehr lebensfähig sein.
Dein Algorithmus ist da kompromisslos: Wenn es ums Überleben geht, rechtfertigt das für ihn sogar Lug und Trug, notfalls auch Gewalt. – Sogar Gewalt gegen den eigenen Träger. Beispiel Heißhunger: Wenn der Energiepegel unter eine kritische Grenze zu fallen droht, zwingt dich dein Algorithmus dazu, den Kühlschrank zu plündern – mentaler Widerstand zwecklos, eine unkontrollierbare Fressattacke wird als letztes Mittel eingesetzt, dich durch diese Kompensation vor dem seelischen Absturz zu bewahren. Seelisches Überleben hat einfach unbedingten Vorrang.
Körperliche und seelische Energie
Bisher war immer von Energie die Rede: Eine die ich körperlich freisetzen kann, indem ich jogge oder Holz spalte – oder welche Energie sollte denn sonst gemeint sein?
Bei meinem Roboter Roby ist es einfach: Da ist Robys Körper mit Armen und Beinen, die eben nicht durch Muskeln, sondern vielen Elektromotoren bewegt werden. Die Software sorgt dafür, dass jeder der Motoren seinen Strom so erhält, dass Roby z. B. winkt, ein paar Schritte macht oder nach einem Glas greift; elektrische Energie für die Motoren und die gleiche für die Recheneinheit, die mittels der Software das Verhalten des Roboters berechnet. Solange der Akku elektrische Energie liefert, gibt es keinen Grund für irgendwelche Einschränkungen in seiner Leistung. Ein Roboter kennt weder Müdigkeit noch Motivationsschwäche.
Beim Menschen werden die Muskeln als ausführende Elemente des Körpers nicht mit elektrischer, sondern chemischer Energie betrieben. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass es beim Menschen für die Berechnung seines Verhaltens nicht ausreicht, genügend chemische Energie im Gehirn bereitzustellen, vielmehr ist zusätzlich eine Art Steuerungsenergie nötig, damit der Algorithmus überhaupt arbeiten kann.
Ein Beispiel: Stellen wir uns Max vor, gestählt im Fitnesscenter, fähig und bereit, Bäume auszureißen. Aber er hängt antriebslos herum, weil ihn seine Freundin verlassen hat. Ein Kerl voller körperlicher Energie wird gelähmt durch einen Mangel an Steuerungsenergie, hier seelische Energie genannt. Selbst wenn sein Gehirn noch so gut mit Zucker als chemischer Energie versorgt sein sollte, kann er keine Motivation für irgendetwas aufbringen. Ganz ohne seelische Energie befindet sich sein Organismus im Stadium der Depression. Und in der Depression läuft gar nichts. – Wir werden noch davon hören, denn wir wollen herausfinden, warum in aller Welt die Natur das System seelische Energie eingerichtet hat.
Beim Menschen gibt es einen weiteren wesentlichen Unterschied zur Arbeitsweise eines Roboters: Mit vollem Akku ist Roby mit seinen Motoren im Körper, seinem Computer im Kopf und dessen Software voll einsatzfähig. Der Roboter schaltet sich ab, bevor sein Akku ganz leer ist. Demgegenüber kennt das menschliche Gehirn bei sinkendem chemischem wie auch seelischem Energiepegel Zwischenzustände, was die Präzision seiner körperlichen Abläufe wie auch die seines Algorithmus betrifft. Eine Studie der University of Bristol2 hat sich mit dem Zusammenhang zwischen Energieversorgung des Gehirns und mentaler Leistungsfähigkeit beschäftigt und kommt zu dem Ergebnis: Ist das Gehirn nicht ausreichend mit chemischer Energie versorgt, erhält es zunächst die Grundfunktionen aufrecht, um den Organismus am Laufen zu halten. Die geistige Leistungsfähigkeit, die als Letztes mit Energie versorgt wird, bricht dadurch ein und man kann nicht mehr klar denken. Die Folgerung ist, dass es eine geschichtete Struktur im Algorithmus geben muss: Auf unterster Schicht sind die Basics, die lebensnotwendigen Abläufe, darüber die Komfortschichten, die nur bei besonders guter Versorgung mit chemischer und seelischer Energie ins Spiel kommen – je größer der Mangel an diesen Energien, desto geringer die Performance des Menschen.
Heutzutage besteht in der Regel kein Mangel an chemischer Energie durch Hunger mehr, die Begrenzung der Leistungsfähigkeit muss daher von einer ungenügenden Versorgung mit seelischer Energie herrühren.
Ein alltägliches Beispiel: Wie gewinnen wir seelische Energie und wie verlieren wir sie? Zum Vergleich: Die Sonne scheint und der Morgenkaffee mit der wohlgelaunten Familie schmeckt vorzüglich. Die Verkehrslage ist kommod. Im Büro eine motivierende Aufgabe und die Kollegin hat Kuchen mitgebracht. Seelische Energie fließt reichlich zu: Ein guter Tag.
Oder: Regenwetter und Kopfschmerzen ziehen runter, die Kinder nerven schon beim Frühstück, der Verkehr ist chaotisch. Zu spät dran, der Chef wartet schon, eine lästige Besprechung steht an und die Kollegin ist kurz angebunden. Seelische Energie fließt in Strömen ab: Ein ausgesprochen mieser Tag.
Investition, Gewinn und Motivation
Was ist das Wesen der seelischen Energie? Klären wir das am Beispiel Hunger: Ein chemisches Defizit baut sich auf, indem im Blut die Konzentration von Glucose (Traubenzucker) absinkt. Eine größere Abweichung vom Normalzustand gefährdet vor allem die Energieversorgung des Gehirns. Dein Algorithmus muss nun schnellstens ein Verhalten errechnen und einleiten, um den Zuckerpegel wieder auf Normalhöhe zu bringen. Das tut er, indem er ein Hungergefühl erzeugt und dich damit auffordert, für Nahrung zu sorgen. Dieses unbefriedigte Bedürfnis Hunger bedeutet nach dem Modell der seelischen Energie die Belastung eines fiktiven seelischen Kontos. Je größer der Hunger, desto stärker sinkt der seelische Kontostand ab