Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können. Wolfgang Issel
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Was macht nun dein Algorithmus? Er schüttet dir in Anerkennung deiner erfolgreichen Aktion Belohnungssubstanz aus, die nicht nur dafür sorgt, dass das Hungergefühl verschwindet, sondern dir darüber hinaus die Empfindung eines Genusses und weitere gute Gefühle verschafft. Du bist befriedigt, dein seelisches Konto ist wieder ausgeglichen.
Was sind nun Belohnungssubstanzen? Mit dieser belohnt der Algorithmus im Auftrag der Natur seinen Träger, den Menschen, für eine erfolgreich ausgeführte Aktion, indem er Glückshormone, vor allem Dopamin, je nachdem aber auch Endorphine, Serotonin oder Oxytocin usw. ausschüttet. Diese Belohnungssubstanzen werden z. B. in besonderen Bereichen des Gehirns freigesetzt und verschaffen beim Andocken an spezielle Rezeptoren in Körper und Geist Wohlgefühl. – Belohnungssubstanzen sind also das chemische Pendant zur seelischen Energie und füllen beim Andocken dein seelisches Konto wieder auf. Im Übrigen hast du mit deinem erarbeiteten hohen seelischen Pegel Mutter Natur bewiesen, dass sich eine Investition in dich lohnt. Sie revanchiert sich entsprechend: Dein gestärktes Immunsystem tötet alles Schädliche bereits im Vorfeld ab, deine Organe laufen wie geschmiert, dein Hirn erblüht in voller mentaler Pracht und rundum herrscht Wohlbehagen: Energie in Fülle, innere Ruhe, hohes Selbstwertgefühl und zielgerichtete Tatkraft, dazu Widerstandsfähigkeit gegen jegliche seelische Unbill – Resilienz würde man heute Letzteres nennen.
Bleiben hingegen Erfolge aus und die Belohnungsrezeptoren offen und unbefriedigt, lässt dir dein Algorithmus schlechte oder gar belastende Gefühle und Ängste entstehen, die den Drang weiter verstärken, endlich für Erfolge und Befriedigung zu sorgen.
Da ist aber noch eine Kleinigkeit: Wenn ich die Motivation meines Roboters berechnen will, um zum Stillen seines Hungers einen Apfel vom Baum zu pflücken, ergibt dies nur dann mit menschlichem Verhalten übereinstimmende Ergebnisse, wenn ich voraussetze, dass das Gefühl einer Belohnung nicht erst beim Pflücken und Verzehren des Apfels selbst entsteht, sondern als eine Art Vorfreude bereits beim Anblick und der Vorstellung, bald diesen attraktiven Apfel genießen zu können.3 Wird der Apfel beim Pflücken dieser Voreinschätzung tatsächlich gerecht, ist alles okay und der Roboter befriedigt. Dem kann ich das einprogrammieren. Beim Menschen geschieht ähnliches, eben über chemische Prozesse: Erscheint der ins Visier genommene Apfel ansprechend, werden chemische Steuersubstanzen ausgeschüttet, die eine Motivation bewirken, den Apfel zu pflücken. Ist der gepflückte Apfel gar noch größer, röter und süßer als erwartet, bestätigt sich nicht nur die Vorfreude, sondern es fließt zusätzliche seelische Energie als Gewinn zu.
Zeigt sich der Apfel wider Erwarten aber eher minderwertig, auf seiner Rückseite z. B. von Vögeln angepickt oder angefault, tritt das Gefühl der Enttäuschung auf den Plan – mit erheblichem Abfluss seelischer Energie. Durch zu hohe Erwartung, eine falsche Vorkalkulation sozusagen, hat man sich getäuscht und ist böse enttäuscht worden. Der als Vorfreude bereits vorweggenommene Vorschuss an seelischer Energie muss nun zurückgezahlt werden. Es ist dieser Abfluss an seelischer Energie, der nach einer erfolglosen Aktion schlechte Gefühle verursacht und das seelische Konto belastet.
Um nicht immer wieder enttäuscht zu werden, sollte die Einschätzung einer Chance zur Investition möglichst realistisch sein. Dies gelingt im seelischen Gleichgewicht am besten.
Die Belohnungserwartung, also der voraussichtliche Ertrag der anvisierten Aktion, ist übrigens ein wichtiger Parameter für die innerlich entwickelte Motivation. Setzt du deine Belohnungserwartung zu hoch an, erwartest also zu viel, wirst du zwar hoch motiviert, jedoch im Falle eines Misserfolgs auch zutiefst frustriert. Schätzt du deine Gewinnchancen hingegen unter Wert ein, wird deine Motivation nicht ausreichen, diese eventuell gute Chance zu nutzen. Erstrebenswert ist also eine möglichst realistische Einschätzung deiner Chancen. Es ist die Hauptaufgabe deines Algorithmus, deine Kräfte im täglichen Leben durch realistisches Erfassen einer Situation so effizient wie möglich einzusetzen.
Noch anspruchsvoller wird die Aufgabe, wenn das Objekt der Begierde kein frei verfügbarer Apfel ist, sondern selbst ein Wörtchen mitzureden hat: Wie sollte man denn dann die Situation und seine Chancen realistisch einschätzen?
Georg auf einer Studentenparty: Auf einer der Bananenkisten sitzt ein hübsches Mädchen mit Drink in der Hand, die Beine übereinandergeschlagen. Sie beobachtet belustigt die Szene. Er hat sie noch nie gesehen, aber sie ist ganz nach seinem Geschmack: dunkles Haar, tiefbraune Augen, gute Figur, nicht zu groß, nicht zu dünn, orientalischer Touch. Darauf fährt Georg ganz besonders ab. Ihre Ausstrahlung ist für ihn höchst erotisch. Leicht beschwipst geht seine Fantasie mit ihm durch: Tausend und eine Nacht. Der Duft des Orients … Eben hat es Theo versucht, der probiert es ja bei jeder. Mit Bierfahne und etwas zu siegessicherem Auftritt ist sein Annäherungsversuch gescheitert und er für alle sichtbar abgeblitzt. Verlegen grinsend machte er sich seitwärts vom Acker. Für Georg ist sie letztlich einfach zu hübsch, um sie anzusprechen, verständlich die Angst vor möglicher Zurückweisung. Angst als Zeichen seines niedrigen seelischen Pegels lässt sein Selbstwertgefühl mitsamt seiner Motivation drastisch schrumpfen. Schade! Zum Trost ein weiteres Bier. Die Schöne lächelt tiefgründig.
Es muss passen! Zu viel der Erwartung fordert Enttäuschung heraus, zu wenig mindert die Motivation. Zu wenig Einsatz bringt nichts, zu viel kann sogar Schaden anrichten. Die Kunst eines Algorithmus besteht darin, das richtige Maß zu treffen. Voraussetzung dazu ist es, die Situation bezüglich ihrer Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen.
Wenn besonders starke Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, können sie das Seelenkonto bis zur Depression niederdrücken:
Chloe hat Sehnsucht nach ihrem Liebsten. Ihre offengebliebenen Glücksrezeptoren lassen sie schlimm leiden. Beim Wiedersehen ist die Folge eine Überschwemmung der Rezeptoren mit Belohnungssubstanz und Glücksgefühle satt.
Aufgrund großer natürlicher Streuung in der Auslegung eines Organismus kann die Stärke dieser Glücksgefühle bei vergleichbarer Erfolgshöhe von Mensch zu Mensch recht unterschiedlich ausfallen. So schüttet das Gehirn von Max für ein und denselben Erfolg mehr Belohnungssubstanz aus als das von Moritz. Dieser muss also für zahlreichere und größere Erfolge sorgen, um auf den gleichen seelischen Level zu kommen wie Max: Er muss sich nicht nur stärker ins Zeug legen, sondern auch ein gewisses seelisches Defizit und damit häufigere Anflüge von Melancholie in Kauf nehmen und damit klarkommen. Das ist nicht wirklich gerecht, aber so ist die Natur eben.
Auch ein fortschreitendes Lebensalter ändert die Verhältnisse: Es ist weniger Energie zum Investieren da und auch weniger für die Belohnung. Das heißt: Je älter man wird, bei desto geringeren Anforderungen gerät man bereits in Stress und desto mehr gilt es, sich bei der Beschaffung seelischer Energie auf noch machbare Aktionen zu konzentrieren und in Betracht zu ziehen, dass eine erfolgreiche Aktion nicht mehr das gleiche erhebende Gefühl auslöst wie in der Jugend.
Um ein Ziel zu erreichen und die fällige Belohnung zu kassieren, ist in der Regel Aufwand zu betreiben. Simpel ausgedrückt: Mit Adrenalin Energie investieren und Dopamin als Belohnung und seelischen Ertrag einfahren. Nach diesem Muster von Investition und Ertrag wickelt der Algorithmus alle seine Geschäfte ab – manchmal mit Erfolg, ein andermal geht es schief. Verlorene Liebesmüh beispielsweise. Dann fließt eben seelische Energie