Die Buchwanderer. Britta Röder

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Die Buchwanderer - Britta Röder

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hatte bereits zahlreiche Kinofilme gefüllt. Plötzlich begann er daran zu zweifeln, dass diese Geschichte für ihn eine wünschenswerte Botschaft enthalten konnte. Romeo und Julia endeten tragisch. Es gab kein Happy End.

      Hatte sie ihm mit diesem Buch einen Korb zugespielt? Doch dann lag ihr zumindest so viel an ihm, dass er ihr den Aufwand einer Botschaft wert war. Es half nichts. Um eine Antwort auf diese quälenden Fragen zu erhalten, musste er sich in die Lektüre begeben und herausfinden, was Shakespeare wirklich geschrieben hatte. Zögernd schlug er das Buch auf, das er an diesem Tag schon so oft hinund hergedreht hatte, und begann zu lesen.

       2

       Zwei Häuser in Verona, würdevoll,

       Wohin als Szene unser Spiel Euch bannt,

       Erwecken neuen Streit aus alten Groll,

       Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand …

      eine Augen flogen über die bekannten Zeilen. In seinem Kopf verwandelten sie sich in den Klang fremder Stimmen, die desto deutlicher zu ihm sprachen, je tiefer er den Sinn des Gelesenen erfasste. Immer dichter wurde die Atmosphäre, die die Worte um ihn herum erschufen. Immer konkreter wuchs das Bild einer neuen Umgebung heran. Ein Luftzug streifte ihn. Hatte er in seiner Wohnung ein Fenster offengelassen? Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er spürte es ganz deutlich und hob überrascht den Kopf. Die Stimmen waren verklungen und er stand auf einem hell gepflasterten Platz inmitten einer fremden Stadt.

      Wach und zufrieden lag die sorglose Betriebsamkeit eines ruhigen Vormittags auf der Piazza und den mehrstöckigen Gebäuden, die sie umsäumten. Die weitgeöffneten Fenster der oberen Etagen atmeten noch die klare Kühle des frischen Vormittags ein. Kinderstimmen und lachende Rufe entschlüpften taubengleich den hohen Mauern und umflatterten den sonnigen Platz. Fassungslos betrachtete Ron die Renaissancepracht der Fassaden, die stolzen Türme und Giebel der Palazzi, er hörte den klaren Glockenschlag einer nahen Kirchturmuhr, die freundlichen Zurufe sich grüßender Nachbarn, das hohle Echo von Hufgeklapper auf dem steinernen Pflaster als ein Junge ein ungesatteltes Pferd vorüberführte. Das Schnauben des edlen Tieres und die sanfte Stimme des Jungen, der beruhigend auf es einflüsterte, klangen Ron noch im Ohr, als sich langsam eine bizarre Gewissheit in seinem Kopf breitmachte. Wo war er? War das etwa Verona?

      Sein Blick in das Blau des sich unendlich über ihm ausdehnenden Himmels ließ ihm keinen Zweifel. Das hier war keine Theaterkulisse. Er befand sich wirklich in Italien.

      Aber was war geschehen? Wer oder was hatte ihn hierher gebracht? Lag in diesem Shakespeare-Stück ein solcher Zauber? Konnten die Worte eines Dichters so mächtig sein? Oder lag es an ihm selbst? War er ein Opfer seiner eigenen Phantasie?

      Mit einem lauten Knall wurde ein Fensterladen über seinem Kopf zugeschlagen, um die steigende Hitze des Tages auszusperren. Erschrocken fuhr er zusammen. Nein, das war kein Traum. Was immer auch gerade hier mit ihm passierte, war real. Absolut real, auch wenn er dafür nicht die geringste logische Erklärung besaß.

      Noch immer völlig durcheinander beobachtete er, wie Geschäft um Geschäft gerade geöffnet wurde und die Kaufleute ehrerbietig ihre ersten Kunden begrüßten. Die heimlichen Blicke vorbeigehender Passanten streiften Ron mit abwägendem Interesse. Doch offensichtlich war man den Anblick Fremder gewohnt und so verflüchtigte sich die erste Neugier schnell zu einem nachlässigen Blick und man wandte sich interessanteren Dingen zu.

      Erleichtert atmete er auf. Seine Anwesenheit, so ungeheuerlich sie ihm selbst vorkam, erregte offenbar niemandes Misstrauen oder Unbehagen. Eigentlich seltsam, dachte er und wagte einen prüfenden Blick an sich herunter. Doch was er sah, verwirrte ihn noch mehr. Seine Kleidung war völlig verwandelt. Mit zittrigen Fingern betastete er das, was eben noch ein graues T-Shirt gewesen war. Verblüfft zupfte er an dem seidigen Kragen eines weitärmeligen, weißen Hemdes. Darüber trug er ein hellgraues, mit zahlreichen dunkelgrauen Applikationen gestepptes Wams, das er an der Hüfte ungewohnt eng tailliert fand, das aber an den Schultern bequem weit geschnitten war. Anstelle der blauen Jeans schmiegte sich ein strumpfhosenähnliches blaues Beinkleid um seine Waden, das sich auf der Höhe der Oberschenkel zu einem kürbisförmigen Stoffballon aufzubauschen begann. Aus seinen schwarzen kunstfasernen Sneakern waren schwarze Schuhe aus Leder geworden, deren weiche, flache Sohlen das Laufen angenehm machen würden.

      Ungläubig griff er sich ans Kinn und zuckte sofort zurück. Anstelle der glattrasierten Haut berührte er einen schmalen, kurzen Bart. Nervös hielt er Ausschau nach einer Möglichkeit, sein Spiegelbild im Ganzen zu betrachten. Völlig benommen stakste er umher und blieb vor dem Fenster eines Tuchgeschäftes stehen. Der sonnige Morgen glänzte im blanken Fensterglas. Leuchtend warf ihm die Scheibe sein neues Ebenbild zurück. Die Verwandlung in einen jungen italienischen Edelmann Shakespearescher Zeit war so perfekt, dass er ebenso verwundert wie restlos fasziniert war.

      „Eine Kamera“, stammelte er tonlos, „ein Königreich für eine Kamera.“ Das unbeabsichtigte Wortspiel ließ ihn schmunzeln. Mit seinem Humor kehrte allmählich auch seine Selbstsicherheit zurück. Nun gut, dachte er. Was immer ihn zum Teil dieser neuen Realität hatte werden lassen, wollte sicher, dass er umherging, um nach seiner schönen Unbekannten zu suchen. Wenn jemand eine Erklärung für all das parat hatte, dann ganz sicher sie, der er dieses unglaubliche Abenteuer zu verdanken hatte.

      Das auffällig laute und hochmütige Gebaren zweier jugendlicher Gecken unterbrach die Beschaulichkeit der Szene. Ausgelassen wie zwei junge Hunde tollten sie so ungestüm umher, dass ihnen zwei ältere Kaufleute gerade noch ausweichen konnten und ihnen kopfschüttelnd nachsahen. Die Mienen der Ladenbesitzer verdüsterten sich schlagartig. Die jungen Männer schienen gut bekannt und ihre Absicht, zu ihrem Vergnügen einen Händel vom Zaune zu brechen, ebenso.

      Mit großspuriger Selbstsicherheit schritten sie einher und boten mit jedem ihrer frechen Blicke eine Einladung zum Streit. Mit dem Mut der zahlenmäßigen Überlegenheit hatten sie schnell ihr Opfer ausfindig gemacht, einen jungen Kerl, der sich ihnen gedankenverloren näherte und ihren Weg bereits in wenigen Schritten kreuzen sollte.

      Sich gegenseitig in die Seiten stoßend und boxend verlangsamten sie ihren Schritt und kamen an ihn heran. Unschuldig wie zum höflichen Gruße blickten sie ihm ins Gesicht und hielten ihm plötzlich feixend eine kindische Geste unter die Nase. Was folgen musste, folgte. Es kam zu einem Wortgefecht, in das sich, wie aus dem Nichts auftauchend, weitere junge Männer mischten. Ein Handgemenge entstand und ehe Ron sich’s versah, befand er sich inmitten einer bluternsten Auseinandersetzung, die mit Fäusten, Messern und Degen ausgetragen wurde.

      In hektischer Eile rafften die umstehenden Kaufleute ihre Waren zusammen und schlugen ihre Läden zu. Die wenigen unbeteiligten Passanten stoben fluchtartig davon. Türen wurden verriegelt. Ron, der nicht wusste, in welcher Richtung er das Heil seiner Flucht am ehesten finden konnte, drückte sich schützend gegen einen Hauseingang, der ihm nur ungenügend Deckung bot.

      Mit ausladenden Bewegungen schlug der streitende Haufen aufeinander ein. Hart wurde Ron vom Ellenbogen eines dunkelhaarigen Degenkämpfers an der Schulter getroffen.

      „Verzeiht!“, stieß der junge Edelmann eine kurzatmige Entschuldigung hervor. Erstaunte braune Augen trafen Ron kurz. „Sucht Deckung, Fremder, dies ist nicht Euer Streit!“

      Dem aufmerksamen Blick seines tückisch grinsenden Gegners war diese Sekunde der Ablenkung nicht entgangen und mit gestrecktem Degen stürzte er auf den Dunkelhaarigen zu. Ron konnte diesen gerade noch mit einem beherzten Tritt ins Hinterteil zur Seite stoßen, sonst hätte sich der feindliche Degen tief in dessen Seite gebohrt. Ohne Zeit für ein weiteres Wort stürmte

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