Die Buchwanderer. Britta Röder
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Читать онлайн книгу Die Buchwanderer - Britta Röder страница 4
„Der Prinz, macht Platz für den Prinzen“, murmelten die umstehenden Leute erleichtert.
„Aufrührer! Friedensfeinde!“, tobte der eilig von seinem Frühstückstisch herbeigerufene Fürst, außer sich vor Wut. „Wilde Tiere!“ Mit hochrotem Kopf und perlendem Schweiß auf der Stirn rang der hochgewachsene Mann schweratmig um die ihm angemessene stadtväterliche Würde.
„Dreimal habt ihr bereits den Frieden unserer Straßen gebrochen“, empörte er sich zornig. „Verstört ihr jemals wieder unsere Stadt, so zahl’ eur Leben mir den Friedensbruch.“
Widerwilliges Gemurmel breitete sich unter den jungendlichen Kontrahenten aus. Doch schließlich ließen sie müde und zerschlagen ihre Köpfe hängen.
„Für jetzt begebt euch, all ihr Andern, weg!“ So als wollte er lästige Fliegen vertreiben, fuchtelte er mit seiner Rechten höchst ungehalten durch die Luft und verlieh damit seinem Befehl an die Menge sich zu zerstreuen den angemessenen königlichen Nachdruck. Die Leute begannen auseinanderzustreben. Die bedrohliche Spannung löste sich in friedliche Erleichterung auf. Mit strengem Auge hatte der Fürst jedoch die Häupter der blutigen Fehde ausgemacht und hielt sie nun mit herrischem Blick zurück. Kühl befahl er ihnen näher zu treten.
Zwei grauhaarige ältere Herren, offensichtlich adligen Standes, traten zögernd wie zerknirschte Knaben näher.
„Ihr aber, Capulet, sollt mich begleiten“, bedeutete er herrisch dem einen der beiden. Mit gesenktem, leichenblassem Haupt nahm der hagere Graf den freien Platz an der linken Seite des Prinzen ein.
„Ihr, Montague, kommt diesen Nachmittag zur alten Burg.“
Demütig versank der rundbeleibte gräfliche Gegenspieler Capulets in eine zierliche Verbeugung und tänzelte rückwärts gewandt in den schützenden Kreis der Seinen, um sich den zornigen Blicken des Prinzen zu entziehen.
Von dem schützenden Hauseingang aus, in den er sich zurückgezogen hatte, beobachtete Ron den Abzug des Prinzen. Mit ihm leerte sich der Platz und es kehrte wieder Ruhe ein.
Keine Frage, auch für ihn bestimmte ein Mindestmaß an Spannung und Aktion die Qualität der Unterhaltung, die er sich von einer Lektüre versprach. Aber die physische Intensität, mit der ihn diese Lektüre vereinnahmte, ging eindeutig zu weit. Ungläubig fuhr er sich über die schmerzhaft pochende Schulter. Die unsanfte Begegnung mit dem Ellenbogen des Degenkämpfers begann einen waschechten Bluterguss zu hinterlassen. Das Vernünftigste schien ihm jetzt, zuerst nach einem Ausweg aus diesem Phantasiegebäude zu suchen, bevor er sich erneut in eine unübersichtliche und gefahrvolle Lage gedrängt fand.
Hatte er in seiner Hast und Ungeduld auf dem Klappentext einen warnenden Hinweis auf die Gefahren dieser Lektüre überlesen? Er dachte an das vielsagende Lächeln der sommersprossigen Bibliothekarin. Sie immerhin hätte ihn doch warnen müssen. Verwirrt schüttelte Ron den Kopf. War es nicht verrückt von ihm, dieses phantastische Abenteuer wie eine reale Begebenheit zu betrachten? Das alles hier konnte doch gar nicht real sein. Aber sogar sein Wissen darüber, dass alles um ihn herum reine Fiktion sein musste, bewahrte ihn nicht davor, alles als völlig real zu empfinden. Wie sollte er bloß wieder aus dieser Geschichte herauskommen, wenn er die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden konnte?
Ratlos sah er sich um. Hilfe war von niemandem zu erwarten. Die inzwischen heiße Mittagssonne verkürzte die von den Häusern geworfenen Schatten zusehends und das alltägliche Leben in den Geschäften und auf der Straße stellte sich mit der ursprünglichen Beschaulichkeit wieder ein. Nur dass die Leute an diesem Tag mit der erneut entbrannten Fehde zwischen den beiden Häusern Capulet und Montague einen aufregenden Stoff für ihre lebhaften Gespräche gefunden hatten, deren Faden mit den Namen der beiden Familien und der des Prinzen immer wieder erregt aufgenommen wurde.
Ron wandte sich um und bog in eine stillere Seitengasse. Wenn dies nur ein Traum gewesen wäre, dann hätte er jetzt einfach erwachen können. Doch so verwirrt er auch sein mochte, dass dies kein Traum war, daran hatte er keinen Zweifel. Er konnte keine symbolhaften Bilder erkennen, die ihm ein Zerrbild seiner Wirklichkeit vorgaukelten, keine Außenansicht seiner eigenen Person, die ihn sich selbst betrachten ließ, als wäre er ein anderer und er selbst zugleich. Was er sah, hörte, spürte und roch, konnte nur sehen, hören, spüren und riechen wer wie er hellwach und bei vollem Bewusstsein war. Das ihn umgebende Geschehen war so real wie er selbst. So real wie sein Umzug in die neue Stadt, so real wie die Begegnung mit der schönen Unbekannten in der Straßenbahn und sein anschließender Besuch in der Bibliothek. Und für den panischen Bruchteil einer Sekunde durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass, wenn er an der Echtheit seines Abenteuers keinen Grund zu zweifeln hatte, er genauso gut an der Echtheit seiner ursprünglichen Wirklichkeit zweifeln konnte.
Eine grün gekleidete Frau erschien wenige Meter vor ihm und verschwand ebenso plötzlich wieder in der Menge. Nur einen Wimpernschlag lang konnte er ihr zartes Profil, ihre schmalen Schultern und den schlanken, sehr geraden Rücken sehen und doch wusste er sofort, wer diese Gestalt war. So stark hatte sich ihr Bild in sein Bewusstsein eingebrannt, dass ihm der kleinste Hinweis zum Wiedererkennen ausreichte. Jeden möglichen Einwand verdrängend folgte er ihrer wendigen Gestalt mit schnellen Schritten und angehaltenem Atem durch das dichte Menschengewühl.
An einer Abbiegung blieb sie unverhofft stehen und wandte sich zu ihm um. Eine Locke ihres kupferfarbenen Haares war ihr aus dem sorgfältig aufgesteckten Kopfputz entwischt. Mit nachlässiger Geste strich sie sie zurück und schenkte Ron ein wiedererkennendes Lächeln, bevor sie ihm den Rücken kehrte und nun völlig in der Menge aufging.
Auf einen Schlag hatten alle seine Zweifel keine Bedeutung mehr für ihn. Sie war hier. Das alleine zählte und war Grund genug für ihn ebenfalls hier zu sein. Er hatte sie gesucht und gefunden. Also hatte er bis hierhin alles richtig gemacht.
Und doch hatte sie sich ihm entzogen. Ohne einen Hinweis ließ sie ihn zurück. Der hellen Freude über seinen kleinen Erfolg folgte die pechschwarze Ernüchterung darüber, völlig im Dunkeln zu tappen. Dieses Katz- und Mausspiel verdross ihn zunehmend. Wenn sie ein Spiel spielen wollte, so verlangte er als ebenbürtiger Partner in die Regeln eingeweiht zu werden. Vielleicht würde er dann auch begreifen, was tatsächlich mit ihm passierte. War es nicht unvernünftig, ja sogar gefährlich, sich auf dieses Spiel einzulassen, dessen Gesetzmäßigkeiten er nicht durchschaute?
„Ihr seid’s, mein unverhoffter Freund“, grüßte ihn ausgelassen der angenehme Bariton einer bekannten Stimme. Neben ihm stand der dunkelhaarige Degenkämpfer vom Vormittag und beeilte sich, ihn kameradschaftlich auf die Seite zu ziehen.
„Erlaubt, dass ich meine Dankesschuld, wenn auch verspätet, abtrage und Euch frage, wie ich Euch gefällig sein darf.“
In dieser Fremde ein freundliches Gesicht wiederzuerkennen, war für Ron kein unbeträchtlicher Trost und so strahlte er den dunklen Mann mit offener Sympathie an.
„Meine Tat war klein“, entgegnete Ron mit nicht geringem Stolz.
„Da will ich widersprechen.“ Der junge Edelmann rieb sich mit gespielt schmerzverzerrtem Gesicht die Rückseite und grinste jungenhaft wie über einen gelungenen Streich.
„Der Tritt war groß und groß war Eure Tat. Habt Ihr mir nicht sogar das Leben, so doch mindestens die Gesundheit gerettet. Wie ist Euer Name?“
„Ron … Ronaldo“, hörte Ron sich selbst sagen.