Hexenkolk - Wiege des Fluchs. Thomas H. Huber
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Schließlich fasste er all seine Gefühle, Sehnsüchte und Vorstellungen in einer Art Bilanz zusammen und nannte sie spaßeshalber das „Kramer´sche Sensogramm“.
Er war sich absolut sicher, dass die für ihn erschaffene Frau, jeden seiner fünf Sinne zu 100% befriedigen würde.
Der erste Sinn war das Sehen: Ihr Aussehen würde exakt seiner Vorstellung entsprechen, ohne Wenn und Aber.
Der zweite Sinn, das Hören: Die Frequenz ihrer Stimme entfaltete sich in seinem Gehirn zu einer absolut perfekten Symphonie.
Der nächste Sinn, das Schmecken: Der Geschmack ihres Körpers löste in ihm eine wahrhaft erotische Gefühlskaskade aus, der er sich vollkommen hingeben konnte.
Ebenso das Riechen: Ihr Duft glich in seiner Vorstellung dem einer Rose und umschmeichelte seine Sinne.
Als fünfter Sinn kam das Fühlen: Ihre Haut, ihr Haar, und ihre ganze Statur fühlten sich wundervoll an und schmiegten sich zu 100% an seinen Körper.
Sein selbst erschaffenes Sensogramm wurde zu seinem Navigationssystem, das ihm ganz sicher den richtigen Weg aufzeigen würde. Als er eines Tages die Entscheidung fasste, felsenfest daran zu glauben, dass es diese ganz besondere Frau tatsächlich gab, und sie nach den gleichen Überlegungen IHN wählen würde, schwor er sich, mit keiner anderen mehr ausgeschweige denn ins Bett zu gehen, bis sie endlich vor ihm stehen würde.
„Hey, Träumer“, riss Jack ihn aus dem zweiten Wachtraum dieses Tages, „wollen wir uns Terminator ansehen und noch ein paar Bier trinken?“ Jonathan sah Jack unsicher an, offenbar irritiert, dass sein Freund ihn nicht in eine Bar im Rotlichtviertel schleppen wollte, und nickte: „Ja, prima, gute Idee“.
NEW YORK, CONOR MATHESON, 2019
In der Klasse herrschte das reinste Tohuwabohu. Erst als Conor die Zimmertür lautstark ins Schloss fallen ließ, bemerkten die tobenden Schüler die Anwesenheit ihres Mathelehrers. Mit hochroten Gesichtern, vollkommen aufgewühlt von den Raufereien in der Pause, begaben sie sich nun in wildem Durcheinander auf ihre Plätze.
Conor stand lächelnd neben seinem Pult und erinnerte sich an seine Schulzeit in der 3. Klasse. Es hatte sich seitdem nicht viel verändert. Zumindest nicht bei den Kindern in diesem Alter. Sie liebten es, ihre Kräfte zu messen, und verloren sich bei körperlichen Aktivitäten vollkommen im Hier und Jetzt, genau wie er und seine damaligen Klassenkameraden. Die älteren Schüler in den höheren Klassen, unterschieden sich in ihrem Verhalten allerdings sehr deutlich von denen aus seiner Zeit. Während man damals in Grüppchen zusammensaß und darüber grübelte, wie man die Welt verbessern konnte, hatte man heutzutage den Eindruck, dass jeder für sich allein blieb. Abgeschottet von der Außenwelt, galt ihre ganze Aufmerksamkeit nur einem einzigen Freund, dem Smartphone. Ob allein, am Schreibtisch sitzend, beim Gehen oder sonstigen Tätigkeiten, starrten sie auf das Display und chatteten mit bekannten und auch fremden Personen. Sie waren nie wirklich anwesend, zumindest hatte man den Eindruck, wenn man in ihre gelangweilten Gesichter sah.
Conor entschied sich relativ früh für seinen Beruf. Schon während der High-School stand für ihn fest: „Ich will Lehrer werden, und zwar Lehrer der Theologie und der Mathematik“. An seinem achtzehnten Geburtstag wurde er allerdings von etwas heimgesucht, das sein Bewusstsein vernebelte, ihm seine Klarheit nahm. Von da an konnte er seine Umwelt nur noch durch einen dicken, nahezu undurchlässigen Schleier wahrnehmen. Nicht, dass er sich dabei krank gefühlt hätte, nein, ganz im Gegenteil, er fühlte sich kraftvoll und lebendig. Trotzdem hatte sich irgendwie alles verändert. Er fühlte sich als Sonderling, als Einzelgänger.
Heute war aus seiner Sicht alles wieder in Ordnung, bis auf ein paar unerklärliche Blackouts, die er weder auf Alkohol noch auf Drogen zurückführen konnte, denn er nahm keine der beiden Substanzen im Übermaß zu sich. Er war auch durchaus davon überzeugt, eine Beziehung mit einem anderen Lebewesen eingehen zu können, doch einen Partner hatte er bislang nicht gefunden. Lag es vielleicht daran, dass er ein schräger Vogel war, der alles um sich herum mit Zahlen messen musste? Zugegeben, manchmal verlor er sich tatsächlich in seinen Berechnungen, ganz gleich ob es sich dabei um derart banale Dinge wie sein Haushaltsbudget drehte, den exakten Kraftstoffverbrauch seines Autos, oder die Dimensionen unseres Sonnensystems im Vergleich zur gesamten Größe des Universums. Alles, was sich um ihn herum abspielte, musste er auf irgendeine Weise berechenbar machen. Newtons Welt der Gravitation und Einsteins Relativitätstheorie fesselten ihn seit seiner Volljährigkeit so sehr, dass er sich heute oftmals darin verlor. Aber dennoch war er ein netter, aufgeschlossener Kerl, ein Mensch mit großem Herzen, wie man meinen könnte. Er war gepflegt, humorvoll, hatte ein ganz passables Einkommen und, wie er vor seinem Spiegelbild oftmals selbst betonte, sah er nicht übel aus.
Aufgrund seiner Liebe für den Kosmos, die der Schleier damals auch mit sich brachte, hatte er sich einen 3D-Beamer angeschafft, selbstverständlich mit allem was dazugehört. 3D-Brillen, eine für ihn selbst, zwei für mögliche Freunde, eine Soundanlage und unzählige Filme, natürlich alle rein wissenschaftlicher Natur. „Heute Abend sehe ich mir einen IMAX-Film an. Hubble in 3D. Hast du Lust rüberzukommen?“ fragte er Charly, das Handy dabei fest ans Ohr gepresst. Charly war ein Freund aus der Nachbarschaft. „Na klar, gerne. Ich habe diese Woche aber Bereitschaftsdienst. Kann sein, dass ich zwischendurch wegmuss“. Natürlich wusste Conor, dass Charly Sanitäter war und regelmäßig zu Einsätzen gerufen wurde. Er sagte oft zu dem schüchternen, liebenswürdigen Mann, dass er ihn für seinen Mut bewunderte. „Ich könnte das nicht“, betonte er immer wieder, „blutige Menschen aus dem Auto ziehen, davor gruselt es mich“. Dabei schüttelte er sich immer und schlug dem netten Charly anerkennend auf die Schulter: „Gut, dass es Menschen wie dich gibt“.
Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es auch schon an der Tür. „Ich habe uns eine Tüte Chips mitgebracht. Ist gut für die Nerven“, lächelte Charly, der in voller Berufsmontur vor der Tür stand. „Mach es dir bequem, die Vorstellung geht gleich los“, sagte Conor aufgeregt. Er konnte es kaum abwarten, endlich ins All hinauszufliegen, wenn auch nur auf der Leinwand, die in seinem Fall eine nackte, weiß getünchte Wohnzimmerwand war. „Dreieinhalb Meter Bilddiagonale“, schwärmte er und Charly nickte anerkennend. Als sie beide auf der Couch platzgenommen und die 3D-Brillen aufgesetzt hatten, kommentierte Conor voller Vorfreude: „Tataaa, und nun geht’s los“. Allein das Intro entlockte den beiden Zuschauern ein entzücktes „Ahhh!“ Riesige Ziffern erschienen als Countdown auf der Bildfläche und flogen auf sie zu, woraufhin die beiden Männer unbewusst mit dem Oberkörper eine Ausweichbewegung machten und lachten. 5, 4, 3, 2, 1 und…. „Wow“ rief Charly begeistert, „das ist ja besser als im Kino“, und bemerkte dabei nicht, wie viel Stolz in diesem Moment in Conors Augen leuchtete, gerade so, als hätte er den Film selbst gedreht.
Dann hörten sie in gewaltigem Sound die Stimme von Leonardo DiCaprio, die ihren Ausflug ins Weltall begleitete. Zuerst führte er sie ins Spaceshuttle, dann in ein riesiges Wasserbecken, in dem die Astronauten ihre Arbeit in der Schwerelosigkeit trainierten, und letztlich zu den Geburtsstätten der Sterne. „Das ist Wissenschaft zum Anfassen“, postulierte Conor, wobei er das Gefühl hatte vor seiner Klasse zu stehen, um seine Faszination für Mathematik und Astrophysik zum Ausdruck zu bringen.
Genau wie Conor, liebte auch Charly seinen Job. Verletzten zu helfen, war seine Leidenschaft. Zum Medizinstudium reichte es allerdings nie. Es war nicht so, dass er dazu nicht genügend Grips gehabt hätte das Studium zu schaffen, nein, es war eher seine finanzielle Lage, die ihm das unmöglich machte. Er kam aus einem armen Haus, seine Eltern, Miguel und Bonita Rodrigues, beide mexikanische Einwanderer, hatten kaum genug Geld, um