A. S. Tory und die verlorene Geschichte. S. Sagenroth
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»Sie wollen also die Geschichte der Familie Torani hören. Nun, den Anfang kann ich Ihnen erzählen …«
Verwundert sahen Chiara und ich uns an. Herr Bassani kannte unsere Namen und hatte uns erwartet? Und wer war die Familie Torani?
Die verlorene Geschichte
Sie beide haben mir etwas gezeigt, was ich schon längst vergessen hatte. Die Welt unvoreingenommen zu sehen, ohne Vorurteile und Ressentiments. Offen, mit dieser fast kindlichen Begeisterung. Eine Leichtigkeit, die ich in meinem Alter nicht mehr empfinden kann, der ich jedoch früher rastlos hinterhergejagt bin. Mit all meinen Reisen, mit dem Sammeln von Musik und Geschichten. Es sind diese staunenden Augen, die nur die Jugend hat, die mich glücklich gemacht und mir etwas geschenkt haben, was ich selbst vielleicht nie in der Form erleben konnte.
Und so erscheint es mir auch jetzt, dass nur diese Augen mein Leben betrachten können.
5. Bassani erzählt
»Ich bin Jahrgang 1927. Ich wurde hier geboren und bin so etwas wie der letzte Hüter einer jahrhundertealten Tradition. Mein Vater und mein Großvater waren bereits Rabbiner und auch in den Generationen davor haben meine Vorfahren die Thora und die Geschichte unserer Väter gelehrt. Ich habe das Glück, dass auch einige meiner Kinder hier wohnhaft geblieben sind. Das hübsche kleine Mädchen, das Ihnen die Tür geöffnet hat, ist meine Urenkelin Helena. Aaron – den Sie unter anderem Namen kennen – und seinen Vater Abraham Torani habe ich nicht mehr kennengelernt. Abraham ist schon vor meiner Geburt fortgezogen. Wohl aber kannte ich Aarons Großeltern, seinen Onkel und dessen Familie. Ihr ehemaliges Wohnhaus liegt direkt gegenüber. Wenn Sie genau schauen, können Sie immer noch die verwitterten Buchstaben erkennen. Libri Torani. Sie hatten in diesem Viertel eine der besten Buchhandlungen und waren so etwas wie eine Institution.«
Ich sah zu Chiara hinüber. Das Foto. Sie nickte. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog die Bildausdrucke hervor, die uns Tory per E-Mail geschickt hatte, und zeigte sie Signore Bassani. »Ja, das ist es. Aber es ist eine spätere Aufnahme. Muss so aus den Fünfzigerjahren sein.« Bassani betrachtete das andere Bild und runzelte die Stirn. »Das hier ist gewiss nicht von hier. Schauen Sie. Der Junge trägt eine Kinderuniform der Hitlerjugend.«
Wir sahen uns das alte Foto nochmals an. Für mich waren es nur ein Mädchen im Dirndl und ein Junge in Kniebundhosen gewesen. Dass das eine Hitleruniform war, war mir bisher nicht aufgefallen.
»Wir haben auch eine Gratulationsanzeige aus einer Zeitung. Eine Margarethe Reuters, geborene von Berneke. Zum Fünfundneunzigsten.« Chiara hielt dem alten Mann den Ausdruck mit der Anzeige hin. »Kennen Sie sie?«
»Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte.«
Signore Bassani zeigte auf das Bücherregal. »Hier befinden sich einige alte Bücher, die meine Eltern bei den Toranis gekauft haben. Die Toranis gehörten genauso wie meine Familie zu denjenigen, die hier seit Jahrhunderten ansässig waren. Ich weiß nicht, inwieweit Sie beide sich bereits mit dem italienischen Ghetto beschäftigt haben. Sie sind noch so jung … Aber es ist ein ganz besonderes Kapitel unserer Geschichte, mit dem ich Stunden füllen kann. Immer noch mache ich ab und an Führungen für Touristen. Ich bin auch früher viel gereist, um auf Vorträgen unser Kulturerbe zu verbreiten. Auf diese Weise habe ich auch Deutsch gelernt – eine Sprache, die mir eigentlich verhasst sein sollte … Nun, ich möchte Ihnen keinen Vortrag über das Ghetto halten – oder haben Sie bis zu diesem Punkt Fragen?«
Chiara und ich schüttelten den Kopf. Wir waren zu gespannt und neugierig darauf, was er sonst noch zu sagen hatte, und wollten seine Erzählung nicht unterbrechen. Und natürlich wollten wir hören, was diese Familie Torani mit A. S. Tory gemeinsam hatte.
»Auch, wenn ich ihm nie begegnet bin, weiß ich doch ein bisschen von Aarons Vater, Abraham Torani. Er wurde hier 1897 geboren und hat mit seinem Vater Emanuel die Buchhandlung geführt. Emanuel war ein sehr gläubiger Jude, der viel auf die Tradition gegeben hat. Der junge Abraham war da anders, sehr interessiert an der neuen Literatur und modernen Sprachen und beeinflusst von den liberalen Strömungen und Bestrebungen der Jahrhundertwende. So hat man es mir später erzählt. Anfang der Zwanzigerjahre hatte er auf einer Reise nach Wien eine Österreicherin kennengelernt. Zum Entsetzen seiner Eltern keine Jüdin, sondern eine Christin. Bei dem jungen Mann hat dennoch die Liebe gesiegt und er ist zusammen mit Elisabeth, so hieß die junge Frau, nach Wien gezogen und kurze Zeit später nach Berlin. Über diese Lebensabschnitte kann ich Ihnen leider nicht viel erzählen. Sicher ist, dass Abraham und Elisabeth zwei Kinder bekommen haben, einen Jungen und ein Mädchen. Tja, den Jungen kennen Sie.«
Wir hatten Bassani bis hierhin gebannt zugehört. Chiara hatte sich zuletzt fest auf die Lippen gebissen, bei ihr ein deutliches Anzeichen für Spannung. Nun schien es aus ihr herauszuplatzen. »A. S. Tory!«
Samuel Bassani schaute sie überrascht an, räusperte sich dann.
»Nun, Sie kennen ihn anscheinend unter diesem Namen. Als er mich diese Tage kontaktierte, um Ihren Besuch anzukündigen, hat er das bereits erwähnt. A. S. Tory … Interessant. Der Klang ist ähnlich und die Initialen sind identisch. Wie er mir gegenüber angedeutet hat, heißt er mittlerweile ganz anders. Aber sein damaliger Name war Aaron. Aaron Simon Torani.«
»Non ci credo!«
Auch ich war irgendwie perplex, obwohl ich es während der Erzählung Bassanis bereits geahnt hatte. Es zu hören, war dennoch etwas ganz anderes. »Und er heißt jetzt nicht mehr so? Kennen Sie seinen jetzigen Namen?«
Bassani schüttelte den Kopf. »Nein. Den hat er mir nicht genannt. Warum er ein solches Geheimnis