A. S. Tory und die verlorene Geschichte. S. Sagenroth
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу A. S. Tory und die verlorene Geschichte - S. Sagenroth страница 6
Als ich gerade das Licht ausmachen wollte, klopfte es an der Tür. Erstaunt öffnete ich. Chiara schlüpfte ins Zimmer. Schon in einer Art Schlafshirt. Grundgütiger! Ich blickte auf ein riesiges Abbild von Albert Einstein. In psychedelischen Farben. Der alte Herr starrte mir geradewegs ins Gesicht und streckte die Zunge heraus. Aber der Spruch war gut: Learn from yesterday, live for today, hope for tomorrow. Ich musste mich dennoch anstrengen, einigermaßen ernst zu bleiben. »Sehr schick, was du da anhast.«
Sie schaute an sich herunter, zuckte aber nur mit den Achseln. Dann räusperte sie sich: » … Bevor es morgen losgeht – ich habe mir nochmals die E-Mails von Tory durchgelesen. Er hat indirekt davor gewarnt, dass nicht nur Schönes bei der Reise rauskommt. Und dann, dass du über dich etwas erfahren könntest … Was glaubst du, was er damit meint? Ich grübele schon die ganze Zeit. Macht einen ganz kirre.« Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und schaute mich fragend an. Ich nahm wieder auf meinem Bett Platz und überlegte, was ich darauf antworten sollte. »Ich habe das ganze Jahr über Tory nachgedacht, wie du weißt. Dass er uns nach Venedig führen würde, darauf wäre ich allerdings beim besten Willen nicht gekommen. Tja, was Tory damit meint … schwer zu sagen. Aber natürlich hat er mich vor allem damit gepackt: dass ich über mich etwas herausfinden kann. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Er hat außerdem damals verdammt wenig über sich erzählt. Ich glaube, dass da etwas Trauriges ist. Und aus irgendeinem Grund sollen ausgerechnet wir das herausfinden …«
Chiara nagte an ihrer Unterlippe. »Hm. Ja, du hast vielleicht recht. So ein Gefühl habe ich auch. Ich freue mich darauf, aber ich habe auch ein bisschen Angst davor, was wir entdecken werden. Und ob ich überhaupt alles wissen will.«
Ich schaute sie an. So nachdenklich kannte ich sie gar nicht. Daher sagte ich aufmunternd. »Hey, wir können doch selbst entscheiden, wie viel wir herausfinden wollen.« Mit einem Nicken erhob sie sich, beugte sich dann rasch zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange und schneller, als ich das realisieren konnte, war sie aus dem Zimmer verschwunden. Was war das gewesen? Ich saß noch eine Weile auf der Bettkante, musste lächeln, grübelte über unser Gespräch, über Chiara, über Tory und entschied mich das Licht auszumachen, um fit für den nächsten Tag zu sein und all das, was da noch so kommen würde …
Die verlorene Geschichte
Wenn ich mich an meine Kindheit, meine Eltern, meine Schwester und Freunde erinnern wollte, war da eine hohe undurchdringliche Wand, die ich mir über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hatte. Ich konnte und musste lange Zeit nicht mehr sehen, was dahinter liegt. Ich wollte auch nicht andere hinter diese Schutzmauer blicken lassen. Es machte mir Angst – und dennoch habe ich mich, wenn auch sehr spät, dafür entschieden. Neben dieser Mauer liegen freie Pfade, die ich unbeschwert begehen kann. Sie führen in die Zeit als junger Mann, als Geschäftsmann, als Reisender, als Junggeselle, als Kunst- und Musikliebhaber, als Weltenwanderer. Hier gibt es viel Schönes, Helles und Lichtes zu finden. So viele Jahre. Jahre, die nur wenige Menschen zur Verfügung haben, Jahre, die meiner Familie nie vergönnt waren …
3. Venedig
Montag, 1.10.18
Ludovica überreichte uns am frühen Morgen ein mit viel Liebe zubereitetes Proviantpaket und drückte mich beim Abschied an sich. Sie begleitete dies mit einer Stakkatofolge italienischer Worte, die ich wieder kaum verstehen konnte. Offensichtlich wünschte sie mir eine gute Reise und bedauerte es, dass ich nicht länger blieb.
Zusammen mit Federico brachen wir auf, um nach Pisa zu fahren. Er hatte mindestens einen so flotten Fahrstil wie seine Tochter. Einziger Unterschied war, dass sein großer Landcruiser sehr viel weniger Lärm machte und größeren Sitzkomfort hatte als Chiaras kleiner Pick-up.
Durch die Täler waberten Nebelschwaden, was den Reiz der Landschaft keineswegs geringer machte, im Gegenteil. Auch lockte das Meer, dem wir uns mit einer Kurve nach der anderen näherten.
In Pisa erwartete uns Lärm und hektischer Straßenverkehr. Hier gestikulierten und schnatterten selbst die Autos mit größter Lebhaftigkeit. Federico gelang es, in einer Seitenstraße in der Nähe des Hauptbahnhofs einen Parkplatz zu ergattern. Mit unseren Reisekoffern polterten wir in Richtung Stazione Centrale di Pisa, einem sehr prächtigen, lang gestreckten, orangefarbenen Gebäude mit mehreren Arkadengängen. Wir kauften unsere Tickets. Über die Abfahrtszeiten hatten wir uns vorab informiert. Um 9.12 Uhr fuhr der Zug, den wir nehmen wollten. In Florenz mussten wir umsteigen. Dennoch würde die gesamte Reise nur circa dreieinhalb Stunden dauern. Wenn es keine wesentlichen Verspätungen geben würde, könnten wir schon in der Mittagszeit in Venedig sein. Am Bahngleis angekommen, verabschiedeten wir uns von Federico. Chiara umarmte ihn, ich gab ihm die Hand.
»Prenditi cura di te!« Federico schaute uns beide prüfend an. Dann gab er uns für Emilia, die venezianische Bekannte, bei der wir wohnen sollten, noch einen Karton mit Wein. Etwas unhandlich, doch Chiara schob ihn lässig in die Ecke des Zugabteils. Wir setzten uns einander gegenüber. Unweigerlich musste ich an meine erste Zugfahrt nach London denken, mit der alles begonnen hatte. Damals war ich allein, wusste nicht, was mich erwartete. Auch jetzt war unklar, was bei unserer Reise rauskommen würde. Mit einem Unterschied: Chiara war dabei. Das war ein gutes Gefühl. Wobei sie keineswegs ein Garant für vernünftige Entscheidungen war … Sie war mutig und taff, sehr positiv, spontan, aber auch verwegen, impulsiv, leichtsinnig und unendlich neugierig. Ihre Nachdenklichkeit gestern war mir daher neu.
Wir hatten Glück und das Abteil für uns. Während der Zug losratterte, überlegte ich, ob ich meinen iPod einstöpseln sollte oder ob das irgendwie unhöflich wäre.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, ermunterte sie mich. »Nur zu, du kannst Musik hören. Wir können in den nächsten zwei Wochen noch genug miteinander reden. Wenn du bei der Musik mitwippst, darf ich mithören.«
Ich musste schmunzeln. Erinnerte ich mich doch an unser gemeinsames Musikhören auf dem Flug nach Marrakesch im letzten Jahr. Fast passte es dazu, was ich als Erstes hörte. Hayate von Luciano. Deutschrap. Arabischer