Baskische Tragödie. Alexander Oetker

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Baskische Tragödie - Alexander Oetker Luc Verlain ermittelt

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Masse unterging. Die kleine Fähre mit dem Namen Bekalde hatte eben abgelegt, doch er stand immer noch in der Schlange. Er zählte die Menschen vor sich, der quietschgelbe Kahn würde sicher noch zweimal hin- und herfahren müssen, bis er endlich mitkam. Auf die Fahrt in ein anderes Land.

      Die Reise bis hierher, ins letzte Städtchen auf französischem Boden, war eine Odyssee, die ihn sich ein wenig fühlen ließ wie einen Jugendlichen auf einer Abenteuerreise. Nur war es kein Spaß, Luc war auf der Flucht.

      Er hatte gewusst, dass er auf keinen Fall den Zug gen Süden nehmen durfte. Die Bahnhöfe würden bewacht werden, ebenso die einzige Buslinie, die Biarritz und die spanische Grenze verband. Deshalb war er immer an der Küste entlanggelaufen, schnell und ohne Pause zu machen, hatte gewechselt zwischen der Strandpromenade, dem Strand und den kleinen Wohnstraßen, die parallel zur Küste verliefen.

      »Merde«, flüsterte er und schloss kurz die Augen. Er hatte so gehofft, endlich eine kleine Sicherheit zu haben. Gleichzeitig hatte er geahnt, was er nun bestätigt fand, als er an der Stelle ankam, an der sie ihn gestern verhaftet hatten: Seinen alten Jaguar hatten sie abgeschleppt. Vielleicht war es auch besser so: Eine Flucht mit seinem Auto wäre ohnehin nicht möglich gewesen. Der Oldtimer war zu auffällig – erst recht nachher an der Grenze.

      Nach einer Stunde war er an der Cité de l’Océan angelangt, hinterm Plage de la Milady. Hier hatte er kurz ausgeruht, hatte sich auf die riesige Welle aus großen Steinen gesetzt, die dem Meeresmuseum seine futuristische Form gab, und versucht, seine Gedanken zu ordnen. Das war ihm nicht gelungen, deshalb war er zu dem großen Parkplatz dahinter gegangen. Er hatte seine Lederjacke ausgezogen und sich die Haare verwuschelt, dann hatte er die beiden jungen Leute angesprochen, ein Pärchen ganz offensichtlich, die eben dabei waren, ihre Surfbretter auf den hellblauen VW Bulli zu laden, der ein deutsches Kennzeichen trug, WW, er hatte keine Ahnung, welcher Ort das war.

      »Hey, sorry guys«, hatte er auf Englisch gesagt. Er wusste, dass die Deutschen das im Allgemeinen besser sprachen als Französisch.

      »Yes?«, hatte der junge Mann geantwortet, ein braun gebrannter Surfer mit langem Haar, seine Freundin und er sahen den Fremden überrascht, aber freundlich an.

      »I’m sorry, aber ich bin auf dem Weg in den Süden«, fuhr Luc auf Englisch fort, »ich treffe ein paar Surffreunde in Spanien, aber der Zug fährt heute nicht, verdammter Streik, könntet ihr mich vielleicht ein Stück mitnehmen?«

      Er fürchtete, sie wussten, dass der Bahnhof von Biarritz gänzlich woanders war und dass die Zugbediensteten seit einer – für französische Verhältnisse – ungewöhnlich langen Weile nicht mehr gestreikt hatten, doch sie schienen völlig arglos.

      »Sure«, sagte der junge Mann, »wir fahren aber nur bis Hendaye, wir sind dort auf dem Zeltplatz. Passt dir das?«

      Luc nickte. »That’s great.«

       »Ok, jump in.«

      Zehn Minuten später fand sich Luc im Fond des dröhnenden Busses wieder, dessen Motor klang, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Neben ihm lag ein schlafender schwarz-weißer Hund, der vorhin, als er eingestiegen war, nur kurz den Kopf gehoben, dann aber friedlich weitergeratzt hatte.

      »Thanks«, sagte er, und seine Stimme schaffte es nur mühsam, den alten Diesel zu übertönen, »that’s really helpful, you know.«

      »Well, you’re welcome«, sagte die junge Frau, gerade als sie das Ortsausgangsschild von Biarritz passierten. »That’s surfer style.«

      Sie hatte recht – und Luc wusste und liebte das: Surfer halfen sich untereinander, egal wo auf der Welt, sie fragten nicht viel nach und hatten immer ein Pflaster, eine Flasche Wasser, eine Mitfahrgelegenheit oder einen Schlafsack zur Hand, wenn jemand aus ihrer Gemeinschaft Hilfe brauchte. Luc hatte selbst oft genug auswärtigen Surfern geholfen, die am Strand von Carcans-Plage, seinem alten Surfrevier, zu lange in den Wellen waren und deshalb kein Quartier für die Nacht mehr fanden. Sein Vater hatte dann beim Abendessen immer ein paar Austern mehr auf den Teller gelegt und eine weitere Flasche Weißwein geöffnet – es waren tolle Abende gewesen.

      So war die Landschaft vorbeigerollt, Luc hatte auf der alten Sitzbank voller Hundehaare gesessen, hinter ihm stapelten sich Küchengeschirr und Flaschen in der winzigen Kombüse des Bullis, alles klapperte unentwegt. Draußen veränderte sich die Gegend, der Fahrer hatte dankenswerterweise – ohne dass Luc ihn darum gebeten hätte – nicht die Autobahn genommen, denn dort gab es sicher Polizeikontrollen. Stattdessen röhrten sie mit mittlerer Geschwindigkeit über die herrliche Küstenstraße. Je weiter sie nach Süden kamen, desto bergiger wurde die Landschaft, erst kam Bidart, dann Guéthary; als sie in Saint-Jean-de-Luz über die Pont Charles de Gaulle fuhren, konnte Luc einen Blick auf den idyllischen Fischerhafen werfen. Die Basken sagten, dieser Hafen sei der schönste der Welt. Luc verstand sie. Er hatte als junger Mann einmal eine kurze Liaison mit einem Mädchen aus Saint-Jean-de-Luz gehabt – und diesen Ort wirklich geliebt, mit seinen träge schaukelnden Fischerbooten, den anmutigen Häusern an der Promenade und dem wilden Meer, das immerzu gegen die alten Mauern spritzte. Doch er durfte jetzt nicht träumen. Er musste seinen weiteren Weg planen, denn die bequeme Reise im deutschen Bulli würde gleich enden.

      Die Straße führte sie noch über die Klippen von Hendaye, von wo sein Blick auf den Ozean fiel, der Horizont ein blauer Strich, an dem die Welt gut hätte zu Ende sein können.

      Und dann bremste der Bus auf der Promenade von Hendaye.

      »Wir fahren jetzt zu unserem Camping. Dir eine gute Zeit mit deinen Jungs beim Surfen.«

      »Merci. Gute Zeit euch.«

      Luc hätte so sehr gewollt, dass das die Wahrheit wäre. Sie klatschten sich ab, dann stieg er aus – und nun, anderthalb Stunden später, stand er also endlich auf der Bekalde, die gerade abgelegt hatte und hinüberfuhr nach Spanien. Es war nur ein kurzer Weg, die beiden Häfen lagen sich genau gegenüber – Hendaye und Hondarribia, nur getrennt durch den Fluss Bidasoa, der hier ins offene Meer überging.

      Luc hielt Ausschau nach Blaulicht auf beiden Seiten, konnte aber keins entdecken. Auf der Fähre befanden sich offenbar ausschließlich Touristen und ältere französische Einheimische, die drüben in Spanien billige Zigaretten kaufen wollten.

      Luc hatte lange überlegt, nun fasste er sich ein Herz und sprach die kleine alte Frau, die neben ihm saß und schweigend auf den Fluss sah, freundlich an.

      »Entschuldigen Sie, Madame, ich habe mein Telefon zu Hause liegen lassen und müsste rasch meiner Frau Bescheid geben, dass es heute Abend später wird.«

      Die alte Dame sah ihn kurz und missmutig an, als fühlte sie sich gestört, doch als sie seinen bittenden Blick sah, hellte sich ihre Miene auf. Sie wühlte in ihrer Kunstlederhandtasche und gab ihm ihr Telefon.

      »Aber nur kurz, ja? Meine Tochter ärgert sich immer, wenn sie ständig mein Guthaben aufladen muss.«

      »Ich kann Ihnen gerne Geld geben, Madame.«

      »Ach bitte, Monsieur, was soll denn der Quatsch? Nun los, telefonieren Sie.«

      Sie wandte sich ab, wohl damit er nicht das Gefühl hatte, sie belausche ihn. Er tippte schnell die Nummer von Anouks Telefon ein. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Sie nahm nicht ab. Verdammt. Er legte auf und probierte es mit dem Festnetzanschluss von Anouks Wohnung in Bordeaux. Wieder klingelte es. Nur einmal. Dann erklang auf dem Anrufbeantworter ihre Stimme.

      

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