Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten. Ernst-Otto Constantin
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Ach, was waren die Erntezeiten schön. Wenn das Getreide gemäht, in Hocken aufgestellt und später eingefahren wurde, wenn gedroschen und das Stroh in Garben gebunden wieder in der Scheune hoch aufgestaut wurde. Es roch alles so gut. Nach der Ernte wurde mit dem Trecker gepflügt. Er zog Furche um Furche. Fritz saß stundenlang auf Schmittchens Schoß und durfte das Steuer halten. Schmittchen war ein warmherziger, lieber Freund. Er verstand Fritz. Er hielt auch mit ihm zusammen und nahm ihn in Schutz.
Die Winter waren Fritz ein Graus. Sie waren in Ostpreußen bitter kalt. Am schlimmsten war es, wenn seine Füße eiskalt wurden, was regelmäßig geschah. Tiefer Schnee bedeckte das ganze Land. Gelegentlich wurde Lisa geholt und vor die Schlitten der ganzen Dorfkinder gespannt. Sie zog die ganze Bande geduldig durch die Landschaft. Fritz war froh, wenn er Lisa wieder in den warmen Stall bringen konnte.
Nikolaus wurde angekündigt. Es war üblich, am Vorabend einen Strumpf außen an der Tür aufzuhängen. Morgens war er gefüllt mit köstlichen Pfefferkuchenkeksen, leckeren Karamellstücken aus der eigenen Küche, Nüssen, roten Äpfeln, Schokolade und anderen Leckereien.
Es wurde Weihnachten. Im Damenzimmer stand jedes Jahr ein wunderbar geschmückter großer Weihnachtsbaum mit roten Kugeln, gelben Kerzen und ganz viel Lametta. Er reichte bis unter die Zimmerdecke. Die Kerzen leuchteten. Im Kachelofen gab es oben eine Öffnung, in der Bratäpfel schmorten. Es war warm und gemütlich und es roch herrlich.
Der Weihnachtsmann war angekündigt. Es klopfte. Fritz sah den Kerl mit einem Sack und einer Rute kommen. Blitzschnell verschwand er unter dem Sofa. Angstvoll lugte er von da unten in den Raum. Er traute seinen Augen nicht. Hatte doch der Weihnachtsmann Schmittchens Schuhe an. Kein Zweifel, die kannte er nun wirklich gut. Und dann die Stimme! „Wo ist der Lorbass?“1 Ganz sicher. Das war Schmittchen. Nichts wie raus aus dem Versteck, den Weihnachtsmann umarmt. „Schmittchen“, war alles, was er herausbrachte. Der nahm ihn auf seinen Arm. Von da an kam nie wieder ein Weihnachtsmann.
1 Lorbass = ostpreußisch für Lümmel, Taugenichts.
Sein Onkel, der Leutnant
Aber da gab es noch etwas. Vater hatte einen Bruder. Zu ihm entwickelte Fritz eine tiefe, sehnsüchtige Liebe. Onkel Dieter kam oft nach Wargienen. Er war Soldat, ein Leutnant der 9. Infanteriedivision, die einstmals aus den Gardejägern hervorgegangen war. Sie galten als Elitedivision. Er wurde oft verwundet und erholte sich dann immer in Wargienen.
Wenn er kam, wich Fritz seinem Onkel nicht von der Seite. Wann immer es möglich war, erklomm er seinen Schoß. Geradezu zärtlich streichelte der kleine Kerl den Onkel. Oft gingen sie spazieren. Fritz hielt ihn immer ganz fest an der Hand. Er erzählte viele spannende Geschichten. Ein warmes Gefühl der Zuneigung und Liebe durchdrang Fritz jedes Mal. Er liebte seinen Onkel über alles. Aber immer wieder hieß es Abschied nehmen, denn Onkel Dieter musste an die Front zurück, nach Russland, zu seinen Soldaten. Er wollte sie nicht im Stich lassen, weil er sich für sie verantwortlich fühlte. Oft weinte Fritz abends in seinem Bett, wenn er wieder weg war.
Was Fritz damals nicht wusste: Onkel Dieter hatte heftige Debatten mit seinem Bruder geführt. Er hielt die SA für alles andere als eine erstrebenswerte Organisation. 1943 kam auch Onkel Dieter nicht mehr zurück. Tiefe Trauer mit vielen Tränen überkam ihn immer wieder. Onkel Dieter war tot, erschossen.
Graf von der Schulenburg aus der Widerstandsgruppe um den Hitlerattentäter Graf Staufenberg schrieb ein kleines Reclam-Heftchen unter dem Pseudonym ‘A. Friedrichs’. Sein Titel: „Ein Leutnant der Infanterie – Dietrich Constantin.“ Er beschreibt darin, was ihm die Freundschaft mit dem Kameraden, der Fritzens Onkel Dieter war, bedeutete. Großmutter erzählte später, dass Onkel Dieter sich mit Sicherheit der Widerstandgruppe angeschlossen hätte, wenn er nicht 1943 in Russland gefallen wäre. Aber wo genau er gefallen war, wusste niemand. Erst 1993 klärte sich das Rätsel auf. Ein ehemaliger Dokumentarfilmer aus der DDR beschäftigte sich mit der Frage, wo die militärischen Widerständler herkamen. Er fand heraus, es war zumeist die 9. Infanteriedivision. Es lebte noch deren früherer Ordonanzoffizier, krank und fast blind, in München. Er löste das Rätsel um die Frage, wo und wann der geliebte Onkel ums Leben gekommen war.
Der Divisionskommandeur hatte seine Offiziere zu einer Besprechung befohlen. Die fand in einem kleinen Dorf namens Kamenka, etwa 150 km südlich von Moskau, in einem Bauernhaus statt.
Die Ordonanz stand vor dem Bauernhaus Wache. Der Offizier hörte Panzer anrücken und schrie in das Gebäude: „Raus, raus!“. Da rumste es auch schon. Eine Panzergranate vernichtete mit einem Schlag das gesamte Offizierskorps. Onkel Dieter habe sie den Schädel zertrümmert. So kam auch sein geliebter Onkel nicht wieder. Er ist im Krieg geblieben. Fritz trug schwer an seiner tiefen Trauer. Der Onkel hat einen Ehrenplatz in seinem Herzen. Ein Bild von ihm steht noch heute in seinem Arbeitszimmer.
Alle Offiziere und der Kommandeur wurden in einem Kameradengrab bestattet. Viel später nahm Fritz sich vor, nach Kamenka zu fahren, um das Grab seines Onkels zu suchen. Er wollte ihn nach Hause holen, nach Potsdam, wo dieser aufgewachsen war. Das ginge deshalb nicht, weil man in diesen Gräbern die Gebeine nicht zuordnen könne. Das jedenfalls war die Auskunft der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Sie wusste inzwischen davon.
Die verhasste Schule
1943 wurde Fritz 6 Jahre alt und es brach die nächste Katastrophe für ihn aus: die Schule. Er hasste sie, wie gesagt. Sie hielt ihn von den Pferden, von Schmittchen und der Freiheit ab. Außerdem war sie anstrengend. Besonders die ätzenden Schularbeiten und das Auswendiglernen waren ihm eine Qual. Und dann diese Lehrerin. Fritz war immer unruhig und unkonzentriert, weil er in Gedanken gerade mal wieder mit Lisa unterwegs war, oder mit Schmittchen oder mit Bello. Immer wieder musste Fritz nach vorne zum Lehrerpult kommen. Dann hieß es: Hände ausstrecken! Die Lehrerin schlug mit einer Gerte in die Handflächen. Das tat richtig weh. Zu Hause gab es kein Bedauern. „Benimm Dich!“ Das war alles, was er von seiner Mutter hörte. Diese Lehrerin war für ihn ein Abgrund des Bösen, und eben die Schule auch.
Oft besuchte seine Großmutter Constantin, die Mutter seines Vaters und Onkel Dieters, Wargienen. Sie lebte in Potsdam und war unglaublich besorgt um ihren Enkel. Hinter allem, was er tat, sah sie schreckliche Gefahren und hatte eine nicht enden wollende Liste an Ermahnungen parat. Die nervten ihn. Großmutter mochte seinen Großvater – also Mutters Vater – nicht. Das fand er nun wieder ganz gut an seiner Großmutter. Ihr Mann lebte schon lange nicht mehr. Er war Gründer des Preußischen und später des Deutschen Landkreistages und ist dessen Präsident gewesen. 1928 starb er an Kehlkopfkrebs. Sein Amtssitz befand sich in Berlin im Herrenhaus in der Leipziger Straße. Heute ist das der Sitz des Bundesrates. Jura studierte er in Tübingen. Dort promovierte er, wurde Assessor in Hameln, später in Danzig und dann Landrat in Labiau/Ostpreußen.
Es gab auf dem Hof eine Schwengelpumpe und ein Bassin. Im Sommer wurde das Becken jeden Abend etwa 70 cm hoch befüllt. Eine Holzrinne leitete das frische, kühle Wasser in das Becken. Es machte einfach Spaß, zu pumpen und das klare Wasser die Rinne entlanglaufen zu sehen. Ein Holzstöpsel am Beckenboden erlaubte, das Wasser jeden Tag wieder abzulassen. Dieses Becken diente zur Kühlung der Milchkannen, damit die Milch über Nacht nicht sauer wurde.
Fritz weiß noch, wie schön es war, wenn das Wasser aus dem Loch floss. Er zog eines Tages diesen Holzstopfen heraus. Das ausfließende Wasser eignete sich besonders gut, um Matsch zu erzeugen. Ein tolles Gefühl an seinen nackten Füßen. Er konnte kreischen vor Vergnügen. Am nächsten Tag war die Milch von 40 Kühen sauer. Fritz suchte das Weite auf dem Hof und lief natürlich zu seinen Pferden.