Meine Engel sind grün. Oliver Kyr
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Und siehe: es tut nicht weh.
Er stirbt nicht daran.
Es fühlt sich sogar gut an.
Vielleicht hätte er all die ]ahre nicht so viel Angst haben sollen - vor dem Leben.
Denn eigentlich ist er schon ein alter Löwe. Der nochmal jung werden musste, um endlich den entscheidenden Schritt zu wagen. Dem Leben bedingungslos zu vertrauen.
Nicht nur in der Welt, sondern auch im Herzen.
In dieser Nacht ist der alte Löwe, der der junge Löwe ist, ein klein bisschen stolz auf sich selbst.
(Lektionen der Pflanzen. Bogotá, Kolumbien. April 2019)
Ich war zwölf, als mir das Leben eine tiefe Wahrheit offenbarte, die ich natürlich erst sehr viel später wirklich verstand. Denn erst musste, nein: durfte ich sie erfahren. Am eigenen Leib, sozusagen im eigenem Herzen.
„Das Leben“ hieß das Kapitel im Biologie-Buch mit dem glotzenden Frosch auf dem Buchdeckel. Und das Kapitel begann mit einem Bild:
Eine weiße Tischfläche, von oben fotografiert. Auf dem Tisch hatte man eine Blechmaus mit schwarz eingefärbtem Laufrad fahren lassen. Daneben war eine lebendige Maus gelaufen, mit roter Farbe auf den Füßchen.
Schwarz und schnurgerade war die Linie der Blechmaus, von Tischkante zu Tischkante. Unbeirrbar, straight ahead. Wie ein Lebenslauf, wenn man sich bei einer Bank bewirbt.
Daneben lief die rote Spur, die sich kurz geradeaus, dann in vielen Windungen kreuz und quer über den Tisch verteilte - mändernd, verschwenderisch, scheinbar ziellos.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade? No, señor. Nicht wenn man das Leben fragt.
Ein Fluss findet zielsicher ins Meer, zu seiner Bestimmung.
Seit Jahrtausenden, Jahrmillionen. Der Fluss weiß, wie man dahin kommt. Und er folgt nicht einer geraden Linie (außer wir Menschen versuchen, Gott zu spielen, und das geht mit hässlicher Regelmäßigkeit schief).
Foto: Auf dem Fluss mit der Fähre nach Hawaii (Guatemala)
Der Fluss windet sich, bald hierhin, bald dorthin, schlägt Schleife um Schleife, zieht seine lustigen Muster ins Erdreich, spült sich durchs Leben. Und: Vater Fluss kommt immer an. Im großen Meer, wo wir alle uns eines Tages wiederñnden werden.
Die rote Spur war mir zu wild, und so folgte ich – wie die brave Blechmaus und wie viele Menschen - dem vorgegebenen Pfad: Gute Noten in den Klassenarbeiten, brav wiederholt, was man mir vortrug und dafür mit Lob und ehrenhaftem Zeugnis belohnt.
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Lob.
Stolz.
Schnurgerade zog sich die schwarze Linie über die Tischplatte. Ich machte, wie man so sagt, „alles richtig“.
Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich sechs war. Es gab keinen offenen Streit, dessen Zeuge ich gewesen wäre. Die Trennung vollzog sich für mich und meine Schwester „friedlich“ (ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür).
Und was an Stabilität fehlte (Papa ist nicht mehr da!), holte ich mir entlang der schwarzen Linie. Die Tischkante war weit weg, hinter dem Horizont, und links und rechts zogen sich die Linien meiner Freunde, der Menschen um mich herum durchs Leben. Parallelen, wir alle. Aufs Ziel ausgerichtet, ein Ziel, das wir nie infrage stellten. Es war ja common ground.
Schubladen lernten wir zu bauen, im Unterricht. Keine aus Holz und Nägeln im Werkunterricht natürlich. Nein: Schubladen in unseren Köpfen.
Das Leben unterteilte sich in Pflanzen, Tiere und uns Menschen (die natürlich den absoluten Höhepunkt der Schöpfung darstellten). Spezies, Arten, Ordnungen und dahinter: die Ordnung. Alles Leben war geordnet, vom Menschen kategorisiert und damit vorhersagbar und in die Logik genagelt (interessant am Rande, dass der Mensch gerne annagelt, was er nicht versteht…)
Nur wenn der Mensch es in eine Kategorie sperrt, dann darf es sein. Ansonsten ist es ein Irrtum und bedarf nicht einmal der Erwähnung. Auch die Wissenschaft glaubt, ja, aber eben nur an sich selbst. An keine höhere Macht, denn sie kann sie ja nicht beweisen. Also werfen wir Demut, Glaube und Magie über Bord und erklären uns selbst zum Maßstab alles Erfahrbaren.
„Glaub nur was du siehst.“
„Träum nicht herum.“
„Benutz mal deinen Kopf, Mensch.“
Wir glauben, wir kennen ein Wesen, wenn wir ihm einen lateinischen Namen geben. Eine Gattung, eine Art, eine Spezies-Zugehörigkeit. Aber kennst du deine Liebste oder deinen Liebsten, wenn du weißt, dass er oder sie Homo Sapiens ist?
Seit dem letzten Jahr, seit Mexiko und Guatemala und Kolumbien, frage ich Pflanzen nach ihren Namen. Und freue mich, wenn sie ganz besonders schön sind.
Ich liebe es, diese Namen auszusprechen, meine Brüder und Schwestern als lebendige Wesen zu verstehen, die durchs Leben vibrieren - ohne Kategorie, ohne Schublade, ohne menschengemachte Einordnungs-Käfige.
Eine Mitschülerin behauptete einmal in Biologie, Steine wären auch Lebewesen. Belächelt vom Lehrer bekam sie die Hausaufgabe, einen Stein zu gießen. Eine Woche lang. Und ihn jeden Tag mit einem Maßband zu vermessen. Ob er denn wachse? Nun, er wuchs natürlich nicht, und so war die Sache klar: Steine sind nicht lebendig.
So einfach kann man es sich machen, wenn der Maßstab der eigenen „Wahrheit“ eben diese „Wahrheit“ ist. Bleib auf der schwarzen Linie, biege nicht ab. Denn abseits des sanktionierten Pfades lauert das Ungewisse.
Und da will man ja nicht hinein…
Dass Pflanzen lebendige Wesen sind, war ein gelerntes Faktum. Sie wachsen durch Zellteilung und haben einen Stoffwechsel: so sind sie eben in der Schublade der Lebewesen gelandet. Dass sie ein Bewusstsein oder gar Seelen besitzen könnten? Ausgeschlossen. Das hatten die Autoritäten
schließlich nicht entdeckt. Was unbeantwortbare Fragen aufwirft, darf nicht sein. Scheuklappen, weiter im Text.
Biologie-Unterricht war Analyse, Einteilung und deren Auswendiglernen. Leben war nicht Magie sondern vorhersehbarer Ablauf. Der Sinn des Lebens war eine interessante intellektuelle Beschäftigung in vorgeformten Konzepten, vielleicht einen Grundkurs in Philosophie oder Ethik wert.
Und so sprang die Maus mit den roten Pfoten eines Tages, unbemerkt und unbetrauert, vom Tisch, kauerte sich in die Schatten und wartete.
Denn sie wusste, ihre Zeit würde kommen.
Aho, liebe Maus. Aho.
Danke für deine Geduld.
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