Jahrestage-Buch. Siegfried Reinecke
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Der Preis der gewollten splendid isolation von den Franzmännern und der Unabhängigkeit war, dass das Gebiet zwischen Koblenz und Mainz, rund zehn Kilometer breit und bis zu 30 Kilometer lang beiderseits der Kleinstadt Lorch, ökonomisch vollständig vom Rest Deutschlands isoliert war. Glücklicherweise war für Wein und Schnaps reichlich gesorgt, weil die meisten Untertanen über Weinberge und eventuell auch noch über eine Brennerei verfügten. Für alles andere waren Ideen gefragt – und kriminelle Energie.
Äußerst seriöse Bürger entwickelten sich zu skrupellosen 'Organisatoren', Schmugglern und Schiebern. Bereitwillige Bauern zum Beispiel, die im Schutze der Dunkelheit Vieh aus dem besetzen Gebiet in den Flaschenhals lieferten, durften großzügige Entlohnung in Form von lokalen alkoholischen Erzeugnissen erwarten. Andere Lebensmittel für die 17000 Einwohner mussten zum Teil über viele Kilometer auf holprigen Wegen mit klapprigen Fuhrwerken herangeschafft werden, immer unbemerkt von den Franzosen. Ganz stolz bilanziert Edmund Pnischeck in seinen Erinnerungen:
„Wenn in Deutschland manche Stadt vor Hungerstreiks bewahrt geblieben ist, so haben sie es den Heinzelmännchen zu verdanken, die damals in Lorch tätig waren.“
Sammler zahlen heute mehr als das Doppelte des Nennwerts (evtl. eine gelinde Untertreibung)
Der französischen Besatzungskommandantur war das Treiben im und um den Freistaat nie geheuer und sie hätte ihm lieber früher als später Einhalt geboten. Als Deutschland mit Reparationsforderungen in Rückstand geriet, besetzen Frankreich und Belgien im Januar 1923 das Ruhrgebiet und einen Monat später auch gleich das Gebiet der renitenten Unabhängigen am Rhein, und das entgegen den Regelungen des Versailler Vertrags. Damit war das Ende des Freistaats besiegelt, er ging im November 1924, als die Franzosen abzogen, in der Weimarer Republik auf. Seine Bürger bedauerten das sehr, immerhin: Sie waren ein Volk, ein ganz besonderes.
In Deutsch-Südwest, also eng geografisch gesehen, ist die Existenz des Freistaats heute noch recht präsent, und sei es nur, um den Tourismus anzukurbeln. Auch Winzer hängen sich an die Geschichte dran und vermarkten ihre Produkte mit entsprechenden Bezeichnungen. Es ist ja auch eine wunderschöne Gegend am Rhein, ganz in der Nähe von St. Goar und St. Goarshausen, Rüdesheim und Bingen. Wie oft ist man früher wohl die Rheinstrecke der Bahn hinunter gefahren, ohne dass einem diese politische Sehenswürdigkeit bewusst war?
Ein Denkmal haben inzwischen zwei Autoren der selbständigen politischen Einheit Flaschenhals in Form einer Bildergeschichte errichtet:
Wiersch, Marco, Kissel, Bernd: Freistaat Flaschenhals (Comic). Hamburg: Carlsen 2019
15. Januar – Nationaler Hut-Tag
Mann ging nicht mehr ohne
Welch schöne Reminiszenz an längst vergangene Tage, an denen eine Kopfbedeckung noch zu etwas nutze war und nicht allein eine reine modische Notwendigkeit darstellte, das zeigt ein recht aktuelles Buchcover. Schon lange zuvor hatte Hans Castorp in Thomas Manns „Der Zauberberg“ entsprechend empfohlen, „dass man einen Hut aufhaben soll, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt." Und schicken tut es sich, wenn man einer Dame begegnet. Aber nicht nur dann: Auch seriöse Herren bewillkommnen sich untereinander gern formvollendet.
„Der Abschaum der Menschheit, wenn ich nicht irre?“ – „Der blutige Mörder der Arbeiterklasse, wie ich annehme?“ (Umschlagbild des Romans unter Verwendung des Textes einer sehr berühmten Karikatur)*
Es ist ein wahrer Jammer, dass die Etikette heute eine andere ist als dazumal vor unserer kleinen westdeutschen Kulturrevolution. „Übrigens: Man geht nicht mehr ohne Hut“, dichtete die Reklame Mitte der Fünfziger Jahre – and so they did. Hut hat man, oder Hut hat man nicht. In aller Regel hat man einen.
Gönnt man sich heute noch einmal die Gelegenheit, in alten Fernseh- oder Wochenschauaufnahmen Straßenszenen aus dieser Epoche zu sehen, so wird man überrascht sein, wie uniform sich die männliche Bevölkerung obenrum ausnahm. Eine, wenn man so will, Armee von Hut- oder wenigstens Mützenträgern bevölkert die Gehwege und Grünanlagen.
Wenige Jahre zuvor hatte Mann sich auch durchgängig bedeckt gegeben, aber immerhin hatte er jetzt den drückenden Stahlhelm durch einen ungleich leichteren Filzhut ersetzen können – hätte er zumindest. Man verließ die Wohnung einfach nicht ohne Hut auf dem Haupt.
Da fiel die Entscheidung dem soldatischen Mann noch leicht:Manfred Schmidt-Illustration aus Hätten Sie's gewußt? (1960)
Zahllos auch die Komödien (vor allem aus der goldenen Zeit der Zwanziger und Dreißiger), in denen ein Mann ewig nicht aus dem Haus kommt, weil er verzweifelt nach seinem Homburg, seiner Kreissäge, seltener seinem Bowler sucht. Den findet z.B. auch Oliver Hardy zuweilen nicht: In der Szene „Der verlorene Hut“ ganz klassisch deshalb nicht, weil er schlicht dort sitzt, wo er hingehört. Und ohne Kopfbedeckung kann sie auch nicht so unnachahmlich elegant von ihm mit dem Ärmel gebürstet werden, man kann sie auch nicht mit der Stan Laurels verwechseln, oder es fehlt im Falle eines Falles etwas zum vor Ärger Hineinbeißen – oder gar zum ganz Aufessen (Laurel in „Way out West – Zwei ritten nach Texas“, 1937).
Hutreklame war aus den Zeitschriften der Adenauer/Erhardt-Ära und aus Fernseh- und Kinowerbungsinseln nicht wegzudenken. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel beispielsweise hatte sie für die weit überwiegend männliche Kundschaft ihren Platz neben den hochpreisigen Auto- und Reiseinseraten sowie den Anzeigen für vergleichsweise ebenfalls nicht gerade billige Alkoholika. Und ihre professionellen Texter und Designer waren weiß Gott nicht einfallsloser als ihre Konkurrenz.
Sei kein Frosch, nimm den Hut! 2/3-seitige Anzeige im Spiegel, Dezember 1965. Text: „Frösche sitzen nur bei gutem Wetter oben. Männer warten nicht auf gutes Wetter. Sie packen jede Aufgabe jederzeit richtig an. Sie vertrauen auf ihr eigenes Urteil. Sie wissen, was richtig ist.“
Da war die Welt des zupackenden, zielbewussten, in jeder Lage souveränen Mannsbilds noch in Ordnung; und die Psychologie des Huttragenden ein sehr übersichtliches Unternehmen.
„Ein Hut macht den Herrn. Ein Hut wirkt männlich. Besonders dem jungen Gesicht gibt der Hut mehr Reife. – Verrät Ihr Haar jedoch die '50', macht Sie ein Hut um Jahre jünger (und eleganter). Der Mann mit modischem Hut erscheint korrekt, selbstsicher und vertrauenswürdig. Frauen sehen das deutlich, denn … Frauen sehen uns lieber mit Hut.“
[Gemeinschaftswerbung der deutschen Hutindustrie, 1958, zitiert bei: http://www.
wirtschaftswundermuseum.de/maennerbild-50er-1.html, Aufruf am 15.02.2020]
Die Alters- und Männlichkeitsregulierung organisiert der Kapitalismus eben auf seine Weise, ästhetisch damals immerhin angenehmer als in der unmittelbaren Gegenwart. Wir müssen darauf noch zurückkommen.
Als sich die Dämmerung der Haut Couture der Hutkultur am Horizont abzeichnete (das tut das beginnende Ende von etwas immer dort und nicht etwa im Nebel oder in der Hocheifel), konnte niemand ahnen, wie schnell und nachhaltig der Verzicht auf dieses so lange scheinbar unverzichtbare Accessoire der Virilität vonstatten gehen würde. Noch 1961 war die endgültige Verwandlung