...und schon bist Du Rassist!. Carl Betze
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу ...und schon bist Du Rassist! - Carl Betze страница 8
Als das Flüchtlingslager in Schutt und Asche liegt, rufen die Menschen vor Ort im Chor nach Angela Merkel.
Und in unserem Land keimt die seit einem halben Jahr von der Corona-Krise in den Hintergrund gedrängte Frage nach der Verteilung der Flüchtlinge unmittelbar wieder auf.
Den Menschen auf der griechischen Insel Lesbos, die selbst das Wenige, was Sie hatten, verloren haben, muss geholfen werden. Umgehend.
Doch auch in dieser Notsituation lassen die europäischen Eitelkeiten eine Soforthilfe nicht zu. Während viele europäische Länder erst gar nicht daran denken, spontan Menschen aufzunehmen, formieren sich in Deutschland erneut zwei Lager: Die, die darauf insistieren, die Not leidenden Menschen aus humanitären Gründen aufzunehmen, egal, ob unsere europäischen Nachbarn gleiches tun oder auch nicht. Und jene, die vehement eine europäische Lösung fordern, um nicht durch die Aufnahme von Flüchtlingen in dieser Ausnahmesituation erneut Anreize für eine weitere unkontrollierte Zuwanderung nach Deutschland zu setzen.
Die deutsche Bundesregierung muss sich ihrer Verantwortung stellen. Schließlich war sie maßgeblich beteiligt an der Wiederherstellung des Grenzregimes.
Und nicht zuletzt hat sie gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne. Die beste Voraussetzung, um endlich eine kontinentale Lösung auf den Weg zu bringen.
Dafür jedoch erscheint ein anderes Gebaren Deutschlands unumgänglich. Denn die EU-Partner sind keinesfalls einverstanden mit der Flüchtlingspolitik made in Germany. „Viele unserer Nachbarn sagen mir: Warum sollen wir uns beteiligen, wenn die Deutschen immer wieder als Moral-Weltmeister auftreten und uns damit unter Druck setzen“, sagt Horst Seehofer.
Manche Partner aus der Europäischen Union würden sich an 2015 erinnert fühlen, als Deutschland zuerst die Grenzen öffnete und erst dann fragte, wer noch Migranten aufnimmt. „Diese Reihenfolge schätzen viele EU-Staaten nicht“. Nach dem Brandanschlag in Moria dasselbe Szenario: Erst entscheidet Deutschland alleine und dann sucht es Mitstreiter. Angesichts der Situation auf der griechischen Insel Lesbos erwartet der Bundesinnenminister jetzt einen handfesten Vorschlag, damit „wir bis Ende des Jahres eine politische Verständigung über die europäische Asylpolitik haben“ (22).
Es muss ein klarer Kurs gefahren werden – nicht zuletzt, um die einheimische Bevölkerung nicht zusätzlich zu verwirren, die sich zurecht fragt: „Warum nehmen wir die auf und andere nicht?“.
07
Ist Flüchtlingspolitik ein staatlichesMachtinstrument?
Im "Neo Magazin Royale" vom 31. März 2016 trägt der deutsche Satiriker Jan Böhmermann unter dem Titel "Schmähkritik" ein Gedicht vor, in welchem dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verschiedene potenziell beleidigende Attribute und Tätigkeiten zugeschrieben werden.
Unter anderem verwendet Böhmermann Klischees über Türken mit rassistischen Anklängen ("Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner"), Pennälerhumor-Ausdrücke ("Die dumme Sau hat Schrumpelklöten"), persönliche Verunglimpfungen ("Sein Kopf so leer wie seine Eier"), und bezieht sich auf verrufene politische Praktiken ("Am liebsten mag er Ziegen ficken und Minderheiten unterdrücken, Kurden treten, Christen hauen und dabei Kinderpornos schauen") (23).
Man mag vom türkischen Staatspräsidenten halten was man will – Böhmermanns Poem ist nach meinem Empfinden weder witzig noch smart, sondern einfach nur dumm und geschmacklos. Billig. Erbärmlich. Wie man über ein solches „Gedicht“ lachen, nein, auch nur schmunzeln kann, erschließt sich mir nicht. Allerdings habe ich mit Satire auch wenig am Hut. Das war zu Zeiten eines Dieter Hildebrandt einmal anders. Komiker vom Format eines Loriot jedenfalls wälzen sich wahrscheinlich mit Schaudern in ihren Gräbern.
Wie nicht anders zu erwarten, reagiert der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan prompt auf die Verunglimpfung aus Deutschland und droht Böhmermann mit Strafverfolgung. Die deutsche Bundesregierung entschließt sich, die Strafverfolgung gegen Jan Böhmermann zuzulassen.
"Im Ergebnis wird die Bundesregierung im vorliegenden Fall die Ermächtigung erteilen", so der Wortlaut von Angela Merkels' Statement.
Im Oktober des gleichen Jahres werden Journalisten der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ verhaftet. Auch diesbezüglich hört man aus Berlin nur zaghafte Kritik an Erdogans autokratischem Kurs (24).
Es hat fast den Anschein, dass die Razzien und Verhaftungen unter den Teppich gekehrt werden. Can Dündar, einst Chefredakteur des Blattes, fordert ein „klares, mutiges Signal für die Demokratie in der Türkei“ von Deutschland und aus der Europäischen Union. „Seit Jahren sind die Europäer dauernd besorgt“, klagt er in einem Interview mit der „Welt“. Und ergänzt resigniert: „Aber das ändert nichts.“
Auch als Erdogan am 14.Februar 2017 den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel in den Knast sperren lässt, bleibt eine unmissverständliche Reaktion aus Berlin aus. „Bitter enttäuscht“ sei sie, betont Bundeskanzlerin Merkel, anstatt mit Vehemenz auf einer Freilassung des unter fadenscheinigen Umständen inhaftierten Journalisten zu insistieren. „Bitter enttäuscht“ - sonst kommt nichts.
Noch drei Monate zuvor, bei ihrem letzten Besuch in Ankara, hat Merkel Erdogan ausdrücklich auf die überragende Bedeutung der Pressefreiheit und einen fairen Umgang mit den deutschen Korrespondenten am Bosporus hingewiesen. Die Antwort Erdogans ist es, Deniz Yücel ins Gefängnis werfen zu lassen.
In den Medien wird die deutsche Bundeskanzlerin in jenen Monaten als „Witzfigur“ für die Despoten weltweit bezeichnet (25).
Auch im Europa-Parlament kommt heftige Kritik an der Reaktion aus Berlin auf. Europaparlamentsvize Alexander Graf Lambsdorff (FDP) beklagt eine „Zaghaftigkeit der Bundesregierung, die es dabei belässt, ihrer Sorge wiederholt Ausdruck zu verleihen“. „Es muss völlig klar sein, dass ohne eine Kehrtwende in der Türkei Visumfreiheit und ein EU-Beitritt überhaupt nicht denkbar sind“ (26).
Warum aber kuscht Angela Merkel vor dem türkischen Präsidenten? Warum reagiert Deutschland nicht auf die offensichtlichen Verfehlungen des Staatsoberhauptes vom Bosporus? Warum laviert Deutschland in der Frage, wie deutlich man angesichts der stets neuen Verstöße Erdogans gegen die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reagieren möchte?
Die Türkei hat als Markt für die EU massiv an Bedeutung gewonnen, sie kann als eines der wenigen Länder eine wachsende Bevölkerung aufweisen. Wirtschaftlich hat die EU ein enormes Interesse, eng mit der Türkei zusammenzuarbeiten, schließlich kann das Land als Markt qualifizierter Arbeitnehmer künftig eine hohe Bedeutung für Europa haben. Vor allem aber ist die Türkei in der Flüchtlingsfrage unverzichtbar geworden. Im Abkommen vom März 2016 vereinbaren die EU und die Türkei, dass Syrer in der Türkei bleiben und nicht etwa die Überfahrt nach Griechenland antreten. Dazu soll die Türkei ihre Grenzen nach Europa strenger kontrollieren. Syrische Flüchtlinge, die es von der Türkei aus aber auf die griechischen Ägäis-Inseln schaffen und dort kein Asyl bekommen, muss die Türkei zurücknehmen. Ohne das Abkommen würden noch mehr Syrer in die EU kommen können. In der Türkei leben Ende 2016 etwa 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge - das sind so viele Menschen, wie in Berlin wohnen. Außerdem ist der Krieg in Syrien nicht vorbei, und schon bald könnten sich mehrere Millionen Menschen auf den Weg nach Europa machen. Das erklärte Ziel Europas ist es nach wie vor, die Türkei in einen „Leuchtturm“ der Demokratie zu verwandeln, der weit in die islamische Welt hinein strahlt.