Das Labyrinth erwacht. Rainer Wekwerth
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Читать онлайн книгу Das Labyrinth erwacht - Rainer Wekwerth страница 16
Zum Glück hatten sie im Wald einige tiefere Pfützen entdeckt, mit deren braunem Wasser sie notgedrungen ihre Flaschen aufgefüllt hatten. Auch die großen Blätter der Farne hatten neue Wasservorräte für sie bereitgehalten. Doch Jenna wusste, dass dieses Wasser wohl kaum für den ganzen Tag reichen würde.
León war bei ihrer Gruppe geblieben. Nachdem sie gemeinsam den Wald verlassen hatten, sahen auch die anderen ihn zum ersten Mal: Deutlich sichtbar, rechts von der Sonne stand ein Stern am Himmel und funkelte gegen das strahlende Blau an. Während sie Stunde um Stunde auf ihn zumarschierten, änderte er seine Position nicht, sondern hing wie festgenagelt am Firmament.
Vor ihr ging Jeb, hinter ihr folgte der Rest der Gruppe, nur Mary war etwas zurückgefallen und trottete ihnen allein hinterher.
Zweimal hatten sie bereits Rast gemacht, einen Teil ihrer Vorräte gegessen und fast ihr ganzes Wasser verbraucht. Nun lief ihnen der Schweiß über das Gesicht. Der Schatten und Wasser spendende Wald lag längst weit hinter ihnen und war bereits nicht mehr auszumachen. Um sie herum war nichts als weite öde Steppe.
Während sie stumm marschierten, dachte Jenna darüber nach, was sie in der Nacht zuvor gesehen hatte. Oder was sie glaubte, gesehen zu haben, denn ganz sicher war sie sich nicht.
Jeb hatte Kathy geküsst. Lang und innig. So hatte es ausgesehen, als sie nach oben ins Geäst geblickt hatte. Oder war das eine Täuschung gewesen? Waren sie nur dicht beieinandergestanden und hatten leise miteinander gesprochen, um die anderen nicht zu wecken?
Jenna wollte das Bild verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Mal sah sie, wie Jeb Kathy küsste, dann wiederum wirkte die Szene ganz harmlos.
Es hatte wehgetan, die beiden zu beobachten. Jenna glaubte zu spüren, dass Jeb sie mochte, dass da eine Verbindung zwischen ihnen war. Aber woher sollte diese Verbindung kommen, sie kannte Jeb doch kaum. Kathy hingegen traute sie nicht über den Weg. Sie war eingebildet, herrisch und arrogant. Kathy wollte Jeb nur benutzen, zumindest vermutete Jenna das. Die Rothaarige umgarnte ihn, weil sie sich einen Vorteil davon erhoffte, aber wenn es um ihr eigenes Überleben ginge, würde sie ihn bedenkenlos opfern.
Trotzdem. Sie hatten sich geküsst.
Sie konnte es sich noch hundertmal einreden, dass ihr das nichts bedeuten sollte.
Und dennoch versetzte ihr der Gedanke einen Stich, den sie sich nicht erklären konnte.
Mischa hatte sich zu Tian gesellt. Der Asiate schien im Gegensatz zu ihm hitzeresistent zu sein. Tians Gesicht war trocken und wirkte geradezu entspannt.
»Du scheinst dir keine Sorgen zu machen«, sprach Mischa ihn an und passte sein Tempo an.
»Ehrlich gesagt, weiß ich immer noch nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.«
»Dann glaubst du nicht an die Geschichte mit den sechs Welten und den Toren? Und dass in jeder Welt einer von uns zurückbleiben muss?«
»Na ja, irgendwie schon, aber im Augenblick ist alles noch weit weg. So weit, dass es unreal wirkt. Es dauert ja noch zweiundsiebzig Stunden, bevor es richtig brenzlig wird.«
Mischa sah ihn verblüfft an. »Weniger, ein paar Stunden sind ja bereits um. Aber meinst du nicht, man sollte auf alles vorbereitet sein?«
Tian blinzelte ihm zu. »Wer sagt, dass ich das nicht bin?«
»Aber wie kannst du auf so was wie das hier vorbereitet sein? Echt, aus dir werde ich einfach nicht schlau: Auf der einen Seite wirkst du wie ein Träumer, andererseits habe ich das Gefühl, du hast schon eine Menge erlebt.«
»An das ich mich nicht erinnern kann.«
Mischa lachte. »Richtig.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte Tian: »Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«
Mischa zögerte. »Ja und nein. Da spuken Bilder in meinem Kopf herum.«
»Was für Bilder?«
»Autos, schwarze Limousinen, ein greller Blitz, Staub und Nebel, Chaos. Dann nichts mehr.« Wieder ein Zögern. »Manchmal glaube ich, ein Gesicht zu erkennen, das sich über mich beugt und mir etwas Unverständliches zuflüstert. Es ist ein Mann, zumindest denke ich, dass es ein Mann ist, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Er sagt immer wieder dieselben Worte, aber ich kann sie nicht hören, irgendetwas ist mit meinen Ohren passiert.«
»Aber jetzt kannst du hören«, sagt Tian. »Also war es wahrscheinlich nur ein Traum.«
»Hoffentlich. Dabei ist alles so real und doch verschwommen.« Er seufzte laut auf. »Und woran erinnerst du dich?«
»Da ist eigentlich nichts, nur Nebel. Und dann einzelne Bilder.«
Mischa bedeutete ihm weiterzusprechen.
»Es klingt bestimmt total bescheuert, aber ich sehe eine Stadt. Sie ist mir fremd und doch absolut vertraut.«
»Hat die Stadt einen Namen?«
»Keine Ahnung. Ich sehe immer nur Ruinen. Ein mächtiges Tor mit Reitern auf dem Dach. Eine hohe Säule, auf der ein goldener Engel steht. Alte Gebäude neben modernen Hochhäusern aus Glas. Verlassene Schächte im Untergrund und immer wieder Schilder, auf denen Orte und Namen stehen. Aber ich kann sie nicht lesen. Es herrscht immerwährender Schneefall, ewiger Winter. Graue Mauern, zerstört, alles ist verbrannt oder zu Schutt geworden. Der Himmel ist bleigrau. Ebenso grau sind die Flocken, die zur Erde herabfallen und alles bedecken. Es ist kalt. Ich friere, aber ich weiß, dass ich nicht stehen bleiben darf. Überall lauert der Feind. Er jagt mich. Unablässig. Ich habe nur eine Chance, ich muss den goldenen Engel erreichen, der in den Himmel ragt. Dort finde ich Frieden, dort gibt es Erlösung.«
»Das sind ziemlich konkrete Eindrücke.« Mischa blickte ihn an. »Glaubst du, es ist deine Heimat?«
Tian schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aber ich war wohl dort, viele Male, und doch fühlt sich alles nicht real an.«
»Vielleicht ist es nur ein immer wiederkehrender Traum.«
»Nein, irgendwie ist es mehr als nur ein Traum. Ich glaube, in diesen Bildern ist die Lösung des Rätsels verborgen.«
»Welches Rätsel?«
»Warum wir hier sind und was das alles zu bedeuten hat.«
León hatte auf Mary gewartet. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie. Sie war zweifelsohne hübsch. Zwar wirkte ihr Gesicht unendlich zart und zerbrechlich, aber der volle rote Mund mit den sinnlichen Lippen sprach da eine ganz andere Sprache. Er sprach von einer Leidenschaft, die Mary bisher erfolgreich verborgen hatte. León fragte sich, warum sie so wenig Ausdauer aufbrachte. Warum sie kraftlos hinter den anderen hertrottete. Ohne zu klagen, ohne zu fragen.
Was ist los mit dir?
León stellte sich diese Frage nicht aus Mitleid oder Neugierde. Es war einfach so, dass Mary die Gruppe aufhielt.