Ferien Lesefutter Juni 2019 - 5 Arztromane großer Autoren. A. F. Morland
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Читать онлайн книгу Ferien Lesefutter Juni 2019 - 5 Arztromane großer Autoren - A. F. Morland страница 6
Der Kellner musterte ihn unsicher. „Weiß ich nicht.“
Jo trank einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Oberlippe. „Freund, du kannst mir glauben, ich bin genau das Gegenteil von ’nem Bullen, und ich suche Jeanette, weil ich einen prima Job für sie habe.“
„Ich sag’s ihr, wenn ich sie sehe.“
„Aber nicht vergessen.“
„Natürlich nicht. Keine Bange.“
„Sag ihr, ich wohne in Philomenas Apartment.“
„In Philomenas Apartment.“ Der Kellner nickte. „Geht klar.“
„Sie soll mich anrufen.“
„Kennt sie die Nummer?“
„Sie steht im Telefonbuch unter Paul Tassler.“
Der Kellner legte die Hand wie eine Muschel an sein Ohr. „Hä?“
Jo Dengelmann grinste. „Ist ein bisschen kompliziert, aber Jeanette kennt sich aus.“
8
Claudia Meeles betrat in schwarzen Kordhosen und cremefarbenem Pullover die große Wohnküche.
„Guten Morgen, Großmutter.“ Sie küsste die Sechzigjährige auf die faltige Wange.
„Guten Morgen, mein Kind.“ Barbara Brauneder schlug sechs Eier in die Pfanne, die auf dem Herd stand und in der sie zuvor den Frühstücksspeck angebraten hatte. Ein Geruch, der Claudias Appetit anregte, erfüllte die Küche.
„Ist Großvater schon auf?“, fragte das Mädchen.
„Er sitzt im Wohnzimmer und liest die Morgenzeitung.“
„Na, so was. Und ich dachte, ich wäre heute früher dran als er.“
Barbara Brauneder wischte die Hände an ihrer Kleiderschürze ab.
„Hast du gut geschlafen?“
„Nein.“
Frau Brauneder sah ihre Enkelin forschend an.
„Du siehst auch nicht besonders gut aus.“
„Ich fühle mich ein bisschen matt“, gab Claudia zu, „aber das vergeht bestimmt, sobald ich deinen guten, starken Kaffee getrunken habe.“
Barbara Brauneder drittelte die große Ham-and-eggs-Ration in der Pfanne und schob die Portionen mit einer Gabel auf die bereitgestellten Teller. Sie sah sich ihre Enkeltochter etwas genauer an.
„Kindchen, deine Augen glänzen“, stellte sie besorgt fest. „Du hast doch nicht etwa Fieber?“
„Glaube ich nicht. Höchstens ein bisschen erhöhte Temperatur.“
„Vielleicht brütest du irgendeine Krankheit aus.“
„Ach, nein, bestimmt nicht“, versicherte Claudia noch.
Sobald das Frühstück auf dem Tisch stand, zog Frau Brauneder ihre Kleiderschürze aus, hängte sie an einen Haken, der an der Küchentür befestigt war, und rief ihren Mann. Ludwig Brauneder erschien ohne Zeitung. Claudia begrüßte auch ihn mit einem Kuss auf die Wange.
Sie setzten sich, und Barbara Brauneder sagte zu ihrem Mann: „Claudia gefällt mir heute Morgen nicht, Ludwig.“
„So?“ Er musterte seine Enkeltochter. „Ich finde sie so hübsch wie immer.“
„Sie hat mit Sicherheit Fieber.“
„Fieber?“ Ludwig Brauneder musterte Claudia noch einmal.
„Doch nicht richtiges Fieber“, sagte das Mädchen.
„Sie sollte heute besser nicht arbeiten“ , erklärte Barbara Brauneder.
„Aber Großmutter ...“, protestierte Claudia.
„Wenn du meinst“, sagte der weißhaarige Mann zu seiner Frau. Die Kompetenzen waren im Hause Brauneder klar getrennt. Er war für alle finanziellen und geschäftlichen Belange zuständig und sie für ein behagliches Heim und das leibliche Wohl aller Familienmitglieder.
„Ich bin nicht so krank, dass ich nicht arbeiten könnte“, versuchte Claudia ihren Großeltern klarzumachen, aber sie kam damit nicht durch. Nach dem Frühstück musste sie sich den Fiebermesser unter den Arm klemmen.
„Aber nicht mogeln“, sagte Barbara Brauneder mit erhobenem Zeigefinger. Zehn Minuten später las sie von der Skala ab: „Siebenunddreißig acht. Na, bitte! Marsch, ins Bett mit dir!“
„Großvater ...“, sagte Claudia flehend.
Doch sie bekam keine Unterstützung von ihm.
„Du tust, was deine Großmutter dir sagt.“
„Aber im Büro liegt ein Haufen Arbeit. Den bewältigt Frau Wagner nicht allein.“
„Peter Werding wird sie unterstützen.“
„Aber der ist doch erst seit einer Woche in der Firma.“
„Er ist sehr tüchtig.“
„Das bestreite ich ja nicht, aber ...“
„Wenn es irgendwelche Probleme gibt, kann er ja mich fragen. Und sollte ich ihm wider Erwarten auch nicht helfen können, rufen wir dich an, okay?“ Ludwig Brauneder legte die Hand sanft auf die Wange seiner Enkelin. „So, und nun zurück mit dir ins Körbchen.“
Widerstrebend gehorchte Claudia. Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, zog sich aus und legte sich ins Bett, während ihr Großvater das Haus ohne sie verließ.
Eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Die Augen fielen ihr zu, und wenig später schlief sie tief. Dass ihre Großmutter zweimal nach ihr sah, merkte sie nicht.
Um elf Uhr erwachte sie mit einem furchtbar schlechten Gewissen. Liebe Güte, sie lag hier auf der faulen Haut, obwohl ihr gar nichts fehlte. Sie legte die Hand auf ihren Kopf. Kein Fieber. Keine erhöhte Temperatur. Sie war nicht müde, nicht abgeschlagen, fühlte sich gut.
Nun aber raus mit dir!, befahl sie sich im Geist, stand auf und ging ins Bad. Nach einer erfrischenden Dusche zog sie an, was sie heute schon mal getragen hatte, und ging nach unten.
Großmutter war nicht im Haus, aber sie hörte ihre Stimme, und als sie ans Fenster trat, sah sie sie am Zaun stehen und mit der Nachbarin reden.
Anfang des Monats hatte Jennifer Mahlek, die Nachbarin, zwei Wochen in der Paracelsus-Klinik gelegen. Seither war sie voll des Lobes für Dr. Härtling und seine Kollegen. Ein Krankenhaus wie dieses gab es ihrer Meinung nach kein zweites Mal in Deutschland, in Europa,