Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld. Volker Mariak
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„… kein geeignetes Datenmaterial zur Verfügung, auf dessen Grundlage Aussagen über die Entwicklung von Gewalt in der Familie gemacht werden können.“ (Schneider, U.: „Gewalt in der Familie“. In: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 26 [1], S. 45)
Diese Aussage wird von der Forschungsgruppe um Lamnek gut fünfzehn Jahre später weiterhin bestätigt (Lamnek u. a., 2012). Ihre Bewertung der Situation in der Bundesrepublik im Gegensatz etwa zur US-amerikanischen Forschung:
„In Deutschland hingegen gab es bislang nur wenig Forschung über Ausmaß und Wahrnehmung häuslicher Gewalt in der allgemeinen Bevölkerung und damit Versuche, auch jene Personen zu erreichen, die nicht durch offizielle Kriminalstatistiken oder das Aufsuchen familien- oder frauenpolitischer Hilfseinrichtungen bzw. staatlich geförderte Begleitforschung erfasst wurden.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 51)
Gerade im Bereich der dringend benötigten Langzeitstudien bestünden fatale Forschungs- und Datendefizite: Lamnek u. a. führen in diesem Kontext aus, dass im deutschsprachigen Raum offensichtlich keine Arbeiten zur Gewalt in den Familien durchgeführt wurden – mit wenigen Ausnahmen im Forschungsbereich Gewalt in der Erziehung (Lamnek u. a., 2012, S. 54). Als Fazit lässt sich festhalten:
Bereits diese knappe Situationsbeschreibung zum Forschungsstand „häusliche Gewalt“ zeigt, dass ein allgemein befriedigendes Erkenntnisniveau in weiter Ferne liegt. Damit ist zugleich aber auch die gesellschaftlich hochrelevante Zielsetzung der Reduzierung von Gewaltbelastung in den Familien nur stark eingeschränkt erfüllbar. Diese Zielsetzung wäre effektiver zu erreichen durch kluge Nutzung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“, der nachstehend kurz skizziert werden soll und neben „häuslicher Gewalt“ das zweite brisante Thema abd eckt.
Die vorliegende Arbeit bietet keine umfassende neue Datenquelle und ebenfalls kein elaboriertes fachtheoretisches Erklärungsmodell und könnte dennoch zu einem weiteren (zugegeben: recht kleinen) Schritt auf dem Wege der Gewaltreduzierung in unserer Gesellschaft beitragen. Die Arbeitsziele lassen sich durch drei Hauptelemente definieren:
Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere"
Diese drei Kernthemen sind im nachfolgenden Text in knapper Form vorzustellen
1. 1 Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Zunächst einmal gilt: Die Darlegungen zum Stand der aktuellen Gewaltforschung richten sich nicht ausschließlich an den engen Kreis damit befasster Fachwissenschaftler. Vielmehr wird in besonderem Maße auch der öffentliche Diskurs angesprochen. „Häusliche Gewalt“ determiniert unsere angeblich so aufgeklärt-friedfertige deutsche Gesellschaft in unterschiedlichsten negativen Facetten, die nicht nur unserem ethischen Anspruch entgegenstehen. Damit wird das Gewalt-Thema - schlicht gesagt - viel zu wichtig, um es auf den universitären Elfenbeinturm zu begrenzen. Es ist somit ein wesentliches Arbeitsziel, interessierte Laien und Fachleute jeder Coleur aus behördlichen Praxis-Bereichen und Initiativen der Sozialhilfe oder Pädagogik kritisch über wesentliche Fragen und markante Inhalte im Erkenntnisstand zu informieren. Die Arbeit steht damit in einer Linie mit dem bereits veröffentlichten Beitrag zur „Spirale der Gewaltkriminalität“ (Mariak, V.: „Die Spirale der Gewaltkriminalität – Tierquälerei und Tiertötung als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen“, 2., erweiterte Auflg., Verlag tredition. Hamburg, 2019). Sie ist, wenn man so will, also ein „Fortsetzungsroman" auf kriminologischer Basis.
1. 2 Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in angeblich ethisch hochentwickelten Demokratien wie der Bundesrepublik oft genug nur hauchdünnn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Oftmals sind Frauen und Kinder als physisch schwächere Kontrahenten die Opfer häuslicher Gewalt, wenngleich sich auch eine Vielzahl von Fällen nachweisen lässt, in denen Männer in die Opferrolle gelangen - jedoch der Exekutive nur geringfügig bekannt und somit weitgehend ohne Sanktion.
Neben dem Hellfeld der polizeilich erfassten häuslichen Gewaltdelikte besteht ein immenses Dunkelfeld von familiären Gewalthandlungen, die - aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Anzeige gebracht werden und in den Familien bzw. den Privathaushalten für Außenstehende „nicht existent" sind. Wahrgenommen wird allein die heile, bürgerlich-normale Fassade. Schaut man also nur auf das Zahlenwerk der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), dann sollte jedem Interessierten bewusst sein, dass damit keinesfalls die „Kriminalitätswirklichkeit“ erfasst wird, sondern einzig und allein ein winziger Ausschnitt daraus. Wie sich die Relationen von Hellfeld und Dunkelfeld zueinander positionieren, veranschaulicht das nachstehende Schema:
(Quellen: Eigene Darstellung nach Abbildungen des Dunkelfeld-Hellfeld-Zusammenhangs in der kriminologischen Forschung. Siehe dazu zum Beispiel: Balschmiter, Peter, u. a.: „Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern“, der Abschlussbericht vom 25. 07. 2017, Dunkelfeldbefragung Mecklenburg-Vorpommern, Befragung zu Sicherheit und Kriminalität 2015 in Mecklenburg-Vorpommern, Projektleitung: Peter Balschmiter, Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, S. 15, Abb. 1: Verhältnis von absolutem und relativem Dunkelfeld; zitiert nach: Bundeskriminalamt 2015, S. 2)
Schema der Dunkelfeld – Hellfeld - Datenrelationen
Die vorstehende Übersicht zeigt das Datengefüge zum Kriminalitätsgeschehen im Hellfeld- und Dunkelfeldbereich. Auszugehen ist von einem absoluten Dunkelfeld, für das keine umfassenden Kenntnisse bestehen (1). Aus diesem Bereich entnimmt die Dunkelfeldforschung ihre Daten und deckt somit einen Bruchteil der Kriminalitätswirklichkeit auf (2). Zudem erfassen die Ermittlungsbehörden (primär die Polizei in der PKS) einen weiteren, wesentlich geringeren Teil der Kriminalität durch vorgelegte (Straf-)anzeigen. Dieser Ausschnitt „firmiert“ in der offiziellen Statistik unter dem Begriff Hellfeld (3). In wenigen Fällen besteht eine Deckungsgleichheit der Daten aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik. Diese Vermengung wird oft als gemeinsame Schnittmenge dargestellt (4). In beiden Datenerhebungen (Forschung und Polizei) finden jedoch auch Fälle ihren Platz, die strafrechtlich nicht relevant bzw. nicht zutreffend sind. „Fehlinterpretationen“ von Ereignissen entstehen sowohl bei Befragten als auch bei privaten Anzeigenden und Polizeikräften durch ihre individuell gefärbte Sicht auf soziale Konfliktsituationen (5 und 6). Nur am Rande: Verzerrungen resultieren auch durch Kriminalität, die nicht als solche gewertet und berichtet wird – etwa weil man sich nicht mehr genau erinnert oder Ereignisse als „alltagsnormal“ und „Familiensache" interpretiert. In diesen Fällen findet sich oftmals die Bezeichnung „doppeltes Dunkelfeld“, und natürlich sind sie ebenfalls Bestandteil des absoluten Dunkelfeldes. Letztendlich ergeben sich auch im Bereich der „Fehlinterpretationen“ Datenüberschneidungen aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik (7). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass