Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4). Stefanie Taschinski
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Читать онлайн книгу Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4) - Stefanie Taschinski страница 3
Mit zusammengebissenen Zähnen flitzte Lilly über den raspelkurzen Rasen, unter der Teppichstange hindurch und schlüpfte in die dichte grüne Ligusterhecke, die den Hinterhof des Brezelhauses in zwei Hälften teilte: den vorderen Teil, in dem die Leberwurst regierte, und den hinteren geheimen Teil, wo die kleine Dame campierte.
»Kleine Dame!«, rief Lilly, kaum dass sie auf der anderen Seite aus der Hecke geklettert war. Sie sah sich nach ihr und ihrem Chamäleon um. »Chaka!«
Das hohe Sommergras neigte sich unter den glänzenden Tropfen und der Regen prasselte unablässig auf das dichte Blätterdach der Büsche und Bäume. Wie im Regenwald, dachte Lilly, während sie die Zweige der alten Weide auseinanderschob. Ein Elbregenwald.
»Kleine Dame, bist du hier?«, fragte sie, zog den Reißverschluss des weißen Zelts auf und hielt überrascht inne. Unmittelbar vor ihrer Nase pendelte Chakas gezackter Schwanz von der Zeltdecke. »Hey, Chaka«, begrüßte sie das Chamäleon und bückte sich, um ins Trockene zu gelangen.
In der Mitte des Zelts hinter Gläsern mit bunten Federn, leuchtenden Glasscherben, sprießenden Blumenzwiebeln und einer silbernen Laterne blickte die kleine Dame von ihrem Salafaribuch auf.
»Lilly! Hereinspaziert, hereinflaniert.«
»Kleine Dame, ich muss dir was erzählen!«, sagte Lilly. »Mama und Papa wollen aus dem Brezelhaus aus…«
»Eins nach dem anderen«, fiel die kleine Dame ihr munter ins Wort. »Mach es dir in meinem Sessel bequem. Chaka und ich brauchen nur noch einen klitzekleinen Moment.«
Wie jetzt? Lilly wollte es sich nicht bequem machen, sondern der kleinen Dame sofort erzählen, was ihre Eltern beschlossen hatten. Sie sah von Chaka, der unter der Zeltdecke hing, zur kleinen Dame, die wieder die Haarschnecken von ihren Ohren anhob.
»Wir lauschen dem Regenlied. Sehr hübsche Melodie. Findest du nicht?«, fragte die kleine Dame.
Lilly hörte vor allem das Brausen und Tosen all der Worte, die sich über den Tag in ihr aufgestaut hatten. Worte, die ins Freie drängten.
»Ich …«, sagte sie.
Im nächsten Augenblick begann Chakas Schwanz, hin und her zu pendeln.
»Einsundzwei, einsundzwei«, summte die kleine Dame. »Einsundzweiunddreiundvier …?« Sie blickte zu dem Chamäleon. »Chaka, bitte entscheide dich.«
Lilly setzte sich auf die Lehne des Ohrensessels. Draußen klatschte witsch ein Zweig auf das Zeltdach. Die kleine Dame schien sich ganz in das Rauschen und Prasseln des Regens einzuspinnen. »Hörst du es, Lilly? Hörst du es?«, wisperte sie.
»Hm, es regnet«, sagte Lilly.
»Die Stimme des Regens ist höchst geheimnisvoll«, erklärte die kleine Dame.
Na, wenn die kleine Dame das meinte. Für Lilly hörte es sich nur wie ganz gewöhnlicher Regen an.
»Die Stimmen«, fuhr die kleine Dame fort, »wechseln sich ab. Der Regen, der Wind, die Vögel, sie singen alle dasselbe Lied.«
»Ach ja?« Lilly wollte jetzt nichts von Liedern hören. Nicht einmal von Liedern der kleinen Dame. Aber diese ließ sich nicht beirren und winkte Lilly zu sich.
»Chaka und ich können es noch nicht beweisen, aber wir glauben, dass es das Brezelhaus-Lied ist.«
Nun war Lilly doch verblüfft. Sie blickte auf die großen und kleinen Klekse im Notizbuch der kleinen Dame. »Was meinst du mit Brezelhaus-Lied? Das kann man aufmalen?«
Die kleine Dame schüttelte den Kopf und seufzte. »Oh nein. So einfach ist es nicht.« Sie notierte etwas. »Ich versuche, den Klang jeder einzelnen Stimme aufzumalen. Das hier ist der Regen.« Sie malte einen weiteren Kringel. »Leider ist es sehr, sehr schwer, seinen Klang einzufangen.« Sie blickte Lilly an. »Du musst wissen, jedes Haus melodiert auf seine ganz eigene Weise. Auch das Brezelhaus.«
Lilly fühlte, wie es sich in ihrer Brust ganz eng zusammenzog. »Dabei kann ich dir nicht helfen«, sagte sie. »Wir … wir ziehen nämlich bald aus dem Brezelhaus aus.«
Die kleine Dame machte ein verdutztes Gesicht. »Noch einmal flugs zurückgespult. Hast du gerade gesagt, ihr zieht aus dem Brezelhaus aus?«
Lilly nickte.
»Aber wieso, weshalb, warum wollt ihr euer Nest wechseln?«
»Mama und Papa meinen, unsere Wohnung ist zu klein. Vor allem, wenn jetzt das Baby kommt.«
Die kleine Dame schüttelte den Kopf. »Hat man je so einen Unsinn gehört! Jeder vernünftige Adler, der seinen Horst gefunden hat, bleibt. Jede kluge Meise, die ihren Nistkasten bezogen hat, bleibt. Und welcher Glückspilz könnte so töricht sein, sein Nest im Brezelhaus aufzugeben?«
»Keiner!«, rief Lilly und fuhr aufgeregt fort. »Karlchen und ich wollen ja auch nicht weg. Nie, niemals. Aber Mama meint, unsere Wohnung platzt aus allen Nähten. Und Papa besichtigt neue Wohnungen.«
Die kleine Dame sprang auf. »Aber euer Nest ist nicht zu klein. Es ist groß, was sage ich, es ist riesengroß!«
»Das sehen Mama und Papa anders.«
»Dann brauchen sie wohl eine Brille. Allein in euer Kinderzimmer würde mein Zelt zweimal passen. Und ihr habt überdies noch eine Schuh-Spiegel-Diele, ein Sofa-Sessel-Zimmer, eine Back-Pixmentier-Küche, ein Zähneputz-Badezimmer und einen Schlafschrank für deine Eltern!«
»Ich weiß!« Lilly atmete tief durch. »Und wir haben auch noch den Verschlag im Keller und eine Ecke auf dem Dachboden und ich bin sowieso jeden Nachmittag bei dir.«
»Siehst du«, sagte die kleine Dame. »Wenn wir deinen Eltern erst einmal gezeigt haben, wie riesengroß euer Nest ist, wollen sie ganz bestimmt nicht mehr umziehen!«
Lilly atmete auf. Was für ein Glück, dass die kleine Dame sogar in den allerverzwicktesten Lagen Rat wusste. Und mit einem Mal war das Gefühl, unter einer Käseglocke zu stecken, verschwunden.
Rote Wangen
Als Lilly kurze Zeit später aus dem Torweg gelaufen kam, spiegelte sich ein frisch gewaschener blauer Himmel in den Pfützen vor dem Brezelhaus. Lilly spitzte die Lippen und pfiff einfach drauflos. Die Töne tanzten und kieksten federleicht. Kie-kie-tü.
Ebenso leicht, wie Lilly sich nach ihrem Besuch bei der kleinen Dame fühlte. Sie hüpfte über eine der großen Pfützen. Wie gut, dass die kleine Dame sich so hervorragend mit Nestern auskannte! Gemeinsam würden sie Mama und Papa zur Vernunft bringen. Die zwei verhielten sich in letzter