Das Mysterium der Einheit in der Vielheit. Stefan Ahmann
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Erleuchtungserfahrungen sind keineswegs abhängig von östlichen Philosophien; sie geschehen spontan und die Philosophien helfen nur, sie im Nachhinein zu erklären (wobei sich die „Erleuchtung“ durch bestimmte spirituelle „Techniken“ zwar vorbereiten, aber nicht erzwingen lässt). Auch der „Weg der Liebe“ ist natürlich nicht abhängig vom christlichen Kontext; entsprechend sollte man sowohl hinduistische als auch christliche Lehren als Hilfestellung sehen. Wir brauchen ein neues Weltbild, das über traditionelle östliche religiöse Ansätze ebenso hinausgeht, wie über traditionelle christliche Ansätze und dessen vielleicht wichtigste Quelle Nahtoderfahrungen sind. Tiefe Nahtoderfahrungen geben uns Aufschlüsse über den geistigen Kosmos und unseren Platz in ihm. Wir sind im Moment noch dabei, alte Traditionen im Lichte neuer Offenbarungen durch Nahtoderfahrungen einzuordnen.
DIE PHILOSOPHIE DES ADVAITA VEDANTA
Warum ist Advaita Vedanta oder Jnana-Yoga so ein effektiver Weg? Weil der Verstand so sehr mit der Vorstellung einer definierten (physischen) Person aufgeladen ist, dass er das größte Hindernis auf dem Weg zur Befreiung ist, aber durch Advaita Vedanta wird er zu ihrem Wegbereiter. Der Verstand wird erst Ruhe geben, wenn er eine zufriedenstellende Antwort auf seine Fragen gefunden hat. Weil man auf diesem Wege den Verstand mit seinen eigenen Mitteln schlägt (man zeigt ihm seine Grenzen), wird der Blick frei für die Realität jenseits des Verstandes.
Advaita Vedanta ist auch deshalb so wichtig, weil hier der Schlüssel liegt zum Beenden der unseligen und sinnlosen Streitereien zwischen „Atheisten“ und „Theisten“ sowie zwischen „Materialisten“ und „Religiösen“ oder „Spirituellen“. Wenn man dann noch Kant und Schopenhauer hinzunimmt, sollte endlich Klarheit und Einigkeit herrschen - wobei dies etwas naiv ist, denn nicht alle Menschen sind reif dafür.
Die Einheit hinter den Polaritäten ist der zentrale Sinn von Advaita Vedanta. Der Kern der Lehre des Advaita Vedanta ist, dass Subjekt und Objekt Verstandeskonstrukte sind und dass das unveränderliche Selbst, unser wahres Wesen, mit der veränderlichen Welt eins ist, dass es also keinen Dualismus gibt. Zunächst wird nachgewiesen, dass die gängige Unterscheidung zwischen dem „Ich“ (als identifiziert mit Körper und Verstand) und der äußeren Welt der Objekte eine falsche ist, die auf Konventionen beruht und aus der Erfahrung nicht bestätigt wird. Stattdessen wird mit Hilfe sogenannter Vivekas (analytische Betrachtungen) eindeutig nachgewiesen, dass das ewige wahre Sein, das jenseits der Objekte, jenseits des Körpers, jenseits des Verstandes liegt, das Licht des Bewusstseins ist. Denn es ist dieses allein, das die „Existenz“ alles anderen ermöglicht. Das wahre Selbst ist unveränderlich, alles andere ist veränderlich. Das wahre Selbst ist sehend, alles andere ist nicht sehend und wird gesehen. Das wahre Selbst ist Bewusstsein, alles andere ist nicht Bewusstsein. Bewusstsein ist immer auf der Seite des Selbst, nicht auf der anderen Seite. Das wahre Selbst ist also jenseits der Erfahrungswelt. Es ist nicht irgendetwas in der Erfahrungswelt, aber - und hier kommt die „Nicht-Dualität“ ins Spiel - die Gesamtheit der Erfahrungswelt ist auch das Selbst, das sich in ihr darstellt. Es ist nicht von ihr unterschieden. Es ist also kein Zweites, das unabhängig von ihr existiert, denn zwei unterschiedliche Dinge können immer auch getrennt wahrgenommen werden: Ich nehme meine rechte Hand getrennt von meiner linken wahr; aber nichts in der Erfahrungswelt kann getrennt vom Bewusstsein wahrgenommen werden. Bewusstsein und Erfahrungswelt sind untrennbar eins.
Die entscheidende Perspektivänderung ist die folgende: Unsere Wahrnehmung richtet sich nicht mehr nur nach außen, auf die Objekte, sondern auf sich selbst. Bei genauer Analyse zeigt sich dann, dass auch das uns am nächsten Liegende, der eigene Körper und der Verstand, nur „Objekte“ unseres Bewusstseins sind, nur im Lichte dieses Bewusstseins überhaupt da sind. Plötzlich wird der Prozess der Wahrnehmung, das Bewusstsein selbst, als das eigentlich Existierende erkannt und die einzelnen Objekte als etwas, das keine von uns unabhängige, für sich genommene Existenz besitzt, sondern substanziell nichts anderes ist, als unser Bewusstsein, als wir selbst. Es gibt kein innen und außen mehr. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die Wahrnehmung, auf das Bewusstsein selbst und die einzelnen Objekte treten verhältnismäßig in den Hintergrund, während es vorher so war, dass die einzelnen Objekte im Vordergrund standen und die Tatsache, dass wir uns diese Objekte bewusst sind, gar nicht bemerkt wurde.
Advaita Vedanta hilft uns von dem grundlegenden „Nichtwissen“ zurückzukommen, welches darin besteht, dass das wahre Selbst, das alles ist, dieses vergisst und meint, es sei ein kleiner Teil der Erfahrungswelt und sich selbst mit einem seiner Objekte (z.B. Körper, Verstand) verwechselt. So entsteht das „Ego“, das kleine oder falsche oder illusorische Selbst.
„Ich bin das Licht der Welt“: Alle Objekte (auch der physische Körper, der Verstand und die Gedanken) stellen sich nur im Lichte des eigenen Bewusstseins dar. Daher ist dieses Bewusstsein dein wahres, innerstes Wesen. Das erkennende Subjekt und das fühlende Subjekt sind aber wunderbarerweise eins. Wahres Sein ist Fühlen-Erkennen. Es ist nicht nur Erkennen, es ist nicht nur Fühlen. Laut Advaita Vedanta gelangt man durch die „drei Schritte“ (die Lehre hören, verstehen und sie in der Meditation vertiefen und realisieren) zu der unausweichlichen Erkenntnis, dass nichts anderes das wahre Wesen des Menschen sein kann, als das fühlende-erkennende Selbst, jenseits aller Objekte, jenseits der Zeit. Das Selbst ist unveränderlich in der Veränderung. Es ist bewusst; darüber hinaus kann man ihm keine Attribute beigeben.
Swami Sarvapriyananda erzählt mehrmals die einfache und doch tiefsinnige Geschichte von den zehn Freunden, die einen Fluss überqueren. Als sie den Fluss überquert haben, sagt einer: „Wir müssen zählen, ob auch alle hier sind.“ Er zählt. Und er zählt (sich selbst aus Unachtsamkeit nicht mitzählend) nur neun. Auch die anderen zählen alle, die sie sehen, und kommen jeweils nur auf neun. Nun sind sie traurig und verzweifelt: „Der zehnte Freund ist ertrunken! Er ist tot!“ Dann kommt ein weiser Mann daher und fragt: „Warum seid ihr traurig?“ Sie antworten: „Unser Freund ist ertrunken. Wir waren zehn und jetzt sind wir nur noch neun.“ Der weise Mann zählt und sagt: „Nein, ihr seid zehn.“ Sie erwidern: „Nein, wir sind nur neun. Wir haben alle gezählt.“ Der weise Mann sagt: „Beruhigt euch, glaubt mir: Alles ist in Ordnung. Der zehnte ist da.“ Sie beruhigen sich langsam und der Weise sagt: „Nun wollen wir noch einmal schauen.“ Einer zählt bis neun und sagt: „Siehst du, es sind nur neun.“ Der Weise nimmt den Finger, mit dem der Mann gezählt hat, und richtet ihn auf den Zählenden selbst. Und der Zählende merkt, dass er auch sich selbst zählen muss. Mit einem Mal versteht er: Alle sind da. Der zehnte Freund war nie verschwunden. Er ist völlig erleichtert und alle freuen sich mit ihm: „Unser Freund ist nicht ertrunken, wir sind alle da!“
Dieses kleine Gleichnis beschreibt alle sieben Schritte der spirituellen Entwicklung. Die sieben Schritte sind: Die Unwissenheit, das „Verhülltsein“, der Irrtum und mit ihm das Leid, der Glaube, die Analyse und das Verständnis, das Verschwinden des Leids, das Realisieren der Freude und der Einheit mit Gott: „sat-chitananda“.
Zu Anfang weiß keiner der zehn, dass er auch sich selbst zählen muss. Das ist die Unwissenheit. Vedanta spricht von „Unwissenheit“ und nicht von „Erbsünde“. Dann das „Verhülltsein“: Weil er nicht weiß, dass er sich selbst zählen muss, ist er für sich selbst verhüllt. So ist Atman oder Gott für uns verhüllt. Die dritte Stufe ist der „Irrtum“, nämlich der Glaube, dass die zehnte Person ertrunken ist, bzw. der Glaube, dass man